AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

GESCHICHTE DER POPULARMUSIK LATEINAMERIKAS


Prof. Dr. Antonio Alexandre Bispo



Universität Bonn
Vorlesung – SS 2004




Samba, Tango, Mambo, Rumba, Salsa, Cha-Cha-Cha, Bolero, Habanera, Choro, Canción, Bossa Nova und viele andere Tanzformen und Liedgattungen der Popularmusik prägen tiefgreifend das Bild lateinamerikanischer Länder. Sie wecken Assoziationen, ziehen das Interesse für die Latino-Kultur von Süd-, Mittel-, aber auch Nordamerika magisch an, können allerdings auch kontraproduktiv für tiefere Auseinandersetzungen mit den vielfältigen soziokulturellen Problemen Lateinamerikas wirken. Sie gehören z.T. zum standardisierten Repertoire internationaler Gesellschaftstänze und können zu einer wenig differenzierten Typisierung von Kulturen und Menschen führen.

Stadtviertel Boca, Buenos Aires. Foto A.A.Bispo

Die Lateinamerikaner selbst müssen sich mit diesem geschaffenen Image auseinandersetzen und damit nach außen und innen möglichst reflektiert umgehen. Die Popularmusik wird zu einem zentralen Gegenstand aller kulturwissenschaftlichen Bemühungen um Fragen der Identität, seien diese national, regional, ethnisch, sozio-ökonomisch oder subkulturell orientiert. Immer mehr wird sichtbar, wie notwenig es ist, die Historizität der Erscheinungen lateinamerikanischer Popularmusik anzuerkennen. So wird die Popularmusik zunehmend zu einem wichtigen Forschungsbereich in der Musikforschung Lateinamerikas, die sich bisher vornehmlich der Kunstmusik und der Folklore gewidmet hat.

Die Forschung der Popularmusik selbst hat eine Geschichte. Sie gehört zu Prozessen, die kontextgerecht untersucht werden müssen. Ihre Entstehung und Entwicklung, ihre Ansätze, ihre Forscher und deren Netzwerke müssen Gegenstand der Betrachtung sein. Es reicht nicht aus anzunehmen, dass der Popularmusikforschung selbstverständlich neben einer historischen und systematischen Musikwissenschaft oder der Musikethnologie ihr Platz zukommt. Diese Auffassung setzt – wenn auch unbewusst - die Annahme voraus, dass es Populäres und Nicht-Populäres gibt, dass eine Trennung von Sphären zwischen Kunst-, Volks- und Popularmusik gleichsam naturgemäß vorgegeben ist und nicht ein Konstrukt ist, das es zu untersuchen, zu hinterfragen und zu überwinden gilt. Die Popularmusikforschung kann in dieser Hinsicht anders als allgemein angenommen nicht fortschrittlich, sondern äußerst konservativ und gar reaktionär sein.

Stadtviertel Boca, Buenos Aires. Foto A.A.Bispo

Die Überwindung einer Denkweise und einer Lehr- und Forschungspraxis, die sich nach Sphären der Kunst- und Volkskultur mit ihrer Konnotation des Höheren bzw. Niederen richtete, war das Hauptanliegen von Bestrebungen zur Erneuerung von Ansichten und Verfahrensweisen in den Kultur- und Musikstudien, die sich in Lateinamerika zunehmend in den 1960er Jahren entwickelten. Die Publikumswirksamkeit von Festivals der Popularmusik und ihre Verbreitung durch die Medien in einer Zeit des Interesses für die Fragen der Massenkommunikation rief ins Bewusstsein, dass die Erforschung dieses Phänomens rückständig oder gar nicht vorhanden war und dass die Popularmusik von den etablierten Studienbereichen der Musikgeschichte und der Volkskunde ignoriert oder entwertet wurde. Die außerordentliche Bedeutung der Popularmusik in gesellschaftlicher und politischer Hinsicht in einer Zeit, in der in vielen Ländern Lateinamerikas Unterdrückungsregime herrschten und das Anliegen nach Erneuerung und Befreiung zu sozialpolitischen Bewegungen in Kreisen der Jugend führten, liess diese Situation in den Kultur- und Musikstudien untragbar erscheinen. Die Bemühungen, die aufkommende Literatur zur Popularmusik in den Kultur- und Musikstudien zu berücksichtigen, ließ allerdings auch eine ausgeprägte Ideologisierung bei den Darstellungen und Interpretationen einiger Autoren in Erscheinung treten, die auch traditionalistische, nationalistische, ja völkischen Einstellungen erkennen ließen.

Die Bewegung zur Erneuerung von Denk- und Sichtweisen in den Kultur- und Musikstudien, die eine interdisziplinäre Vorgehensweise und eine Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Prozesse förderte, kollidierte mit der Einstellung mehrerer Forscher der Popularmusik und mit dem Anliegen der Etablierung einer neuen Sphäre und Disziplin, nämlich der Popularmusikforschung. Die Auseinandersetzung mit dem Begriff des Populären und somit der Popularmusik prägte die theoretische Diskussion in der Volkskunde.

Die Debatte wurde in Brasilien im Rahmen der in São Paulo 1968 gegründeten Gesellschaft für Studien von Musikprozessen (Nova Difusão) mit ihrem musikwissenschaftlichen Forschungszentrum geführt, in dem es vor allem um die theoretischen Ansätze der Forschung selbst ging. Von maßgeblicher Bedeutung wurden die Gespräche, die in mehreren Großstädten Brasiliens 1970 im Rahmen der sich als Lehrstück der Massenkommunikation und Konstruierbarkeit von Popstars verstehenden Show Build Up mit Kulturtheoretikern wie Rogerio Duprat und prominenten Popularsängern stattfanden. Bei der Einführung der Musikethnologie in Zusammenarbeit mit dem Fachbereich Ästhetik an der Fakultät für Musik und Kunsterziehung São Paulos (IMSP) wurde die Debatte auf Hochschulebene weiter entwickelt. Zur Besprechung des Themas im gesamtamerikanischen Rahmen wurden Dialoge in Punta del Este 1973 durchgeführt.

Markt in Montevideo. Foto A.A.Bispo

In den folgenden Jahrzehnten wurde die Thematik in Tagungen und Kongressen fortgeführt. Sie wurde in verschiedenen Kontexten und in multilateralen Kooperationen in Deutschland beim Leichlinger Musikforum seit 1981 diskutiert. Beim ersten Brasilianischen Kongress für Musikwissenschaft 1987 wurde der Stand der Forschung und der Studien betrachtet. In mehreren lateinamerikanischen Ländern und in den Vereinigten Staaten wurden Gespräche in Universitäten, Kulturzentren und bei Musikgruppen geführt, u.a. in Uruguay, Argentinien, Chile, Kuba, Kolumbien, der Dominikanischen Republik und Puerto Rico.

Der Popularmusik und ihrer theoretischen Problematik wurden Sitzungen des Internationalen Kongresses „Musik und Visionen“ gewidmet, der von der Deutschen Welle und der Akademie für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft 1999 veranstaltet wurde. Die Diskussion wurde fortgeführt beim Kolloquium „Brasil 2001“ sowie 2002 beim eurobrasilianischen Kongress „Musik, Projekte und Perspektive“ in Brasilien. Bei all diesen Tagungen wurde die Rolle der Medien besprochen. Der iconic turn des kulturtheoretischen Denkens mit seiner Fokussierung auf das Visuelle, das Visionäre, das Zeichenhafte und die Bildersprache standen im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen.

Buenos Aires. Foto A.A.Bispo

Vorangegangenes

2002. Popularmusikforschung, Kulturwissenschaft und Musikerziehung. Internationaler Kongress Musik, Projekte und Perspektiven. Akademie für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft/ISMPS. Rio Grande do Sul, São Paulo, Rio de Janeiro

2002. Interaktionen Kunst- und Popularmusik. Konzert und Vortrag. Maria Brangança u.a. Theater S. Pedro. Kultursekretariat des Staates São Paulo. São Paulo

2003. Besprechungen in Musikinstitutionen Kubas und der Dominikanischen Republik. Santigo de Cuba, Santo Domingo

2001. Besprechungen in Musikinstitutionen Kubas. Nationalbibliothek und Nationalkonservatorium. Havanna

2001. Brasil 2001.Neue Tendenzen der Popularmusik – Brazil Electro. Akademie für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft/ISMPS. Köln

1999. Popularmusik beim Internationaler Kongress Musik und Visionen. Deutsche Welle, Akademie für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft/ISMPS. Köln

2000. Popularmusik Lateinamerikas. Center for Latin American Studies. University of California, Berkeley

1994. Spanien-Lateinamerika in der Popularmusik. Studien in Barcelona

1993. Popularmusik in Amazonien. Kultursekretariat von Acre. Kulturhaus von Rio Branco. Rio Branco

1989. Viola, Cavaquinho, Bandolim in der Forschung. Alberto Ikeda. Tagung bei den portugiesischsprachigen Migranten. Kulturamt Kölns und ISMPS. Köln

1987. Popularmusik-Vorträge beim I. Brasilianischen Kongress für Musikwissenschaft. São Paulo

1987. Music in the Life of Man. Regionaltreffen für Lateinamerika und Karibik. International Music Council/UNESCO. São Paulo

1985. Music in the Life of Man. Regionaltreffen für Lateinamerika und Karibik. International Music Council/UNESCO. Mexico-City

1982. Interaktionen Kunst- und Popularmusik. Zusammenwirken mit Charles Cornisch..Deutsch-brasilianisches Musikforum/Musikschulwoche. Leichlingen

1974. Polyvalenz und Popularmusik. Woche der Kunst. Fakultät für Musik und Kunsterziehung São Paulos. São Paulo

1973. Forschungsarbeit zur Popularmusik. Fachbereich Musikethnologie. Fakultät für Musik und Kunsterziehung São Paulos. São Paulo

1971. Debatten mit Rogerio Duprat, Rita Lee, Juca Chaves u.a. im Rahmen der Show Blow Up. São Paulo, Rio de Janeiro, u.a.

1970. Dialoge mit José Ramos Tinhorão. Zentrum für musikwissenschaftliche Forschungen/ND. São Paulo

1967. Arte und Kommunikation. Leitung Decio Pignatari. Kulturamt der Stadt São Paulo und Stadtbibliothek. São Paulo



Haus von Carlos Gardel, Buenos Aires. Foto A.A.Bispo

Zur Vorlesung in Bonn 2004

2004 wurde die Geschichte der Popularmusik in Lateinamerika Thema einer Vorlesung am Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Bonn. Die Vorlesung hatte als Ziel, einen Überblick über die Erforschung der Popularmusik Lateinamerikas aus einer Perspektive zu gewähren, die die theoretischen Ansätze und Fragen einer kulturwissenschaftlich orientierten Musikwissenschaft fokussierten.

Anhand von Tonaufnahmen, Noten und Bildmaterialien wurden in dieser Vorlesung soziale und kulturhistorische Voraussetzungen für die Entstehung, Entwicklung, Verbreitung und Wandlung von musikalischen Ausdrucksweisen der Popularkultur Lateinamerikas behandelt. Von vergangenen Tänzen und Musikstilen – wie dem Maxixe – bis zu aktuellen Erscheinungen – wie Brazilelectro – sollten ein Panorama der Vielfalt lateinamerikanischer Popularmusik aufgezeigt und zugleich Grundlagen zu einer kulturwissenschaftlich fundierten, interkulturell orientierten Musikanalyse geboten werden.

Die Vorlesung wollte ins Bewusstsein bringen, dass die Behandlung der Popularmusik Lateinamerikas in kohärenter Weise mit dieser Auffassung der Musikforschung nicht aus der Perspektive eines sich als gesondert verstehenden Fachbereichs der Popularmusikforschung zu betrachten ist, da dieser bereits durch seine Bezeichnung eine Kategorisierung des Objekts der Untersuchung erkennen lässt, sondern aus der Perspektive der Musikforschung erfolgen sollte, die auf Prozesse ausgerichtet ist.

Mit diesem Anliegen wurde die Aufmerksamkeit auf sozialgeschichtliche Prozesse gerichtet, die nicht nur eine kontextgerechte Betrachtung von Musikentwicklungen in bestimmten Sozialsphären, Städten, Regionen und Ländern ermöglichen, sondern auch die Untersuchung von Ausbreitungen und Interaktionen in gesamt-lateinamerikanischen Zusammenhängen.




Buenos Aires. Foto A.A.Bispo