AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

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50 jahre hochschullehre und forschung

antonio alexandre bispo

NOTATION

SEMIOLOGIE – PALÄOGRAPHIE

Prof. Dr. Antonio Alexandre Bispo

Universität zu Köln
SS 2006




Außerplanmäßige Professur
gefördert als Stiftung für Musikologische Kulturanalyse/Kulturanalytische Musikologie
von der Akademie für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft/ISMPS


Im Anschluss an
Debatte über L'écriture et la différance von J. Derrida (1930-2004) beim Seminar zu Musik in der Kunsttheorie, Köln 2005

Die Bedeutung der Notation in der Musik ist durch die Entwicklung der Aufnahmetechnik, der Medien und vor allem durch das Internet, das eine allzeitige Verfügbarkeit von Musik, Wiederholungen und Verarbeitungen ermöglicht, zunächst in ihrem Ausmaß nicht ganz zu erfassen. Die mühsame Festlegung des Gehörten auf Papier scheint in vielen Fällen überholt, kaum möglich und unadäquat. Die Notierung außereuropäischer Musik scheint seit dem Vorhandensein von Tonaufnahmegeräten nicht nur überflüssig, sondern auch fragwürdig zu sein. Die Transkription ist gleichsam eine Übertragung des Gehörten auf ein Notierungssystem, das sich im Verlaufe europäischer Musikgeschichte entwickelt, was trotz Versuchen, verdeutlichende Sonderzeichen zu verwenden, nicht kontextgerecht ist.

Die Transkriptionsarbeit ist aber in der Musikethnologie trotzdem notwendig. Wie ein Sprachforscher, der die Literatur einer außereuropäischen Kultur untersuchen will, kein Analphabet sein darf, sondern Lesen und Schreiben in seiner eigenen Sprache beherrschen muss, so ist es unangebracht, wenn ein europäischer oder einem europäisch geprägten Kontext angehörendee Musikethnologe weder Notenlesen, noch singen oder spielen nach Noten vermag oder Gehörtes in seiner eigenen Musiksprache aufschreiben kann. Er ist ein Analphabet.

Alte Ausgabe gregorianischer Gesänge, Maria Laach

Um die Bedeutung der Notation in der Musik zu erfassen, hilft ein Hineinversetzen in eine Situation vor dem Vorhandensein der Möglichkeit von Tonaufnahmen. Die Musik ist flüchtig, ungreifbar, nicht festzuhalten. Sie wird schnell vergessen, und wenn an sie erinnert wird, wird sie aus dem Gedächtnis gesungen. Nur einige Merkmale können mnemonisch bei der Erinnerung an ein Lied helfen. Sie sind wie Zeichen als Hilfe des Gedächtnisses und gewissermassen Aufzeichnungen. Sie helfen jedoch einem Fremden kaum, der sie deuten muss. Ein Lied erinnert wiederum an Erlebtes, Vergangenes. Volkssänger, Blindensänger, Rhapsoden, die Geschichten erzählen, singen aus dem Gedächtnis. Viele Popularsänger und -instrumentalisten können gar nicht Notenlesen oder spielen auswendig.

Musik wird aus dem Gedächtnis nach antiker Auffassung geboren. Memoria, die Mutter der Musen, ist die Mutter der Musik, wie die alten Griechen von Mnemosyne sagten, d.h. Musik ist die Tochter des Gedächtnisses. Die Völker aller Kontinente sangen aus dem Gedächtnis und die alten Sänger sind die Träger der Erinnerung von Stämmen, Gemeinschaften und gar Nationen. Priester und Propheten sind Sänger. Die Musik, wie sie in der Antike geklungen hat, ist verloren. Die Zeichen in wenigen Fragmenten sind schwer zu entziffern. Die Notationen in gesungenen Texten des christlichen Kultus, die in biblischer Schrifttradition stehen, sind Zeichen, die der Erinnerung dienten, das Weitertragen des Gesanges ermöglichten, die aber gelesen und gedeutet werden müssen. Wie der Text selbst sind sie nicht oberflächlich, wortwörtlich zu lesen, aber in ihrer Bedeutung, nach dem, was sie tragen. Schwieriger aufzuzeichnen und das Aufgezeichnete zu lesen ist es, wenn die Musik mehrstimmig ist.

Kölner Dom. Foto A.A.Bispo

Die Geschichte der Notation ist von der Bemühung um größere Präzision geprägt, die vor allem durch die Verwendung von Linien als Hilfsmittel, gleichsam als Referenz für die Tonhöhe und als Raster, erreicht werden sollte, Verfahrensweisen, die sich wiederum auf das theoretische Denken auswirkten. Die Noten, die Partituren, wie sie heute bekannt sind, fügen sich in diese Tradition ein. Andere Probleme stellen sich bei der Untersuchung der Notierung für Instrumentalmusik. Sie bezieht sich nicht primär auf das Singen von Texten, sondern mit ihr sollten Griffe und Handhabungen festgehalten werden, was sich wiederum auch auf das theoretische Denken und die Musiksprache auswirkte. Musik und Notation betreffen Hören und Sehen, Akustisches und Visuelles, die Wahrnehmung und sind somit von Bedeutung für die musikästhetische Reflexion. Sie sind für die zeitgenössische Musik wichtig, wobei die Entwicklung technischer Mittel der Tonaufzeichnung das Verhältnis zwischen Mnemosyne und ihrer Tochter grundlegend verändert hat.

Die Beschäftigung mit der Musiknotation, ihrer Geschichte, der Entzifferung historischer Notierungen und ihrer Deutung ist verständlicherweise von herausragender Bedeutung und nicht neu in der Musikwissenschaft. Musikforscher der Vergangenheit haben herausragende Leistungen hervorgebracht. Das Studium ihrer Publikationen ist stets aktuell, auch weil sie die Entwicklung der Forschungserkenntnisse aufzeigen und Voraussetzungen zu späteren Arbeiten lieferten. Die Erforschung der Forschung, die Beachtung der Ansätze der Forscher, ihre Denk-, Sicht- und Arbeitsweise ist auch hinsichtlich der Notationskunde zu beachten.

Keinesfalls sollen die Notationskunde und die Paläographie nur im Sinne einer handwerklichen Übung aufgefasst werden. Sie sind in ihrer Einfügung in Prozesse der Erkenntnisgewinnung zu studieren, in die Wissenschaftsgeschichte, in die historische, systematische, aber auch vergleichende Musikwissenschaft bzw. in die Musikethnologie. Übungen in Notationskunde sowohl der einstimmigen als auch der mehrstimmigen, der vokalen und instrumentalen Musik müssen kontextgerecht und unter Beachtung kulturwissenschaftlicher Ansätze durchgeführt werden.

Entwicklung des Ansatzes

Zeichen, Schrift, Schriftlichkeit, Bildersprache, Kultur als Text oder gar Lektüre der Stadt als Text bestimmte die Auseinandersetzung mit theoretischen Fragen in Kultur- und Musikstudien in verschiedenen Wissens- und Forschungsbereichen vermehrt seit den 1960er Jahren. Seit langem prägte die Rezeption von Werken u.a. von Ch. S. Pierce (1839-1914) und von F. de Saussure (1857-1913) die Überlegungen in vielen Ländern der Welt. Sie wurden in Studien zur Informations- und Kommunikationstheorie vor allem in Zeiten des erhöhten Interesses in Medien und Massenkomunikation der 1960er Jahren, aber auch in Kreisen von Kulturtheoretikern außerhalb Europas diskutiert. Fragen der Notation erlangten darüber hinaus in der Neuen Musik besondere Bedeutung. Zu erinnern ist an die Diskussion über die Graphische Notation auch in Lateinamerika, als Komponisten zusätzlich zur tradierten Notenschrift Symbole, Farben, Texte verwendeten, was zu vielfältigen Experimenten in der Avantgarde-Musik wie die Aktionsgraphik führte. Bahnbrechend waren diesbezüglich Veranstaltungen im Museum Zeitgenössischer Kunst in São Paulo ab 1966.

Fragen zur Notierung von Musik und das Studium von Notationssystemen in verschiedenen Kulturkontexten und Epochen wurden ab 1968 im Zentrum für musikwissenschaftliche Studien der Gesellschaft Nova Difusão und von 1972 bis 1974 in der Fakultät für Musik und Kunsterziehung São Paulos in Zusammenhang mit der Entwicklung der Studien zum Visuellen in der Medien- und Kommunikationforschung behandelt. Das Studium der historischen Notationskunde im portugiesischen Sprachraum gingen zunächst von der Arbeit von Solange Corbin (1903-1973) aus. International wurden diese Fragen bei Tagungen und Treffen zur von Dom Eugène Cardine OSB (1905-1988) entwickelten Gregorianischen Semiologie u.a. in der Abtei Solesmes 1976, in der Abtei Maria Laach 1978, in Rom 1982/1985 und bei verschiedenen Anlässen in Deutschland besprochen.

Gespräche in Solesmes 1975

Die Ergebnisse der semiologischen Forschung hatten Auswirkungen auf die Aufführungspraxis, deren Erneuerung, insbesondere im Umfeld der Gregorianik, mit Widerständen zu kämpfen hatte, die vor allem auf Einwände kirchlicher Traditionalisten zurückgingen. Die Musikwissenschaft in Köln wurde zu einem Zentrum dieser z.T. polemisch geführten Bestrebungen konservativer, semiologie-kritischer Forschung.

Bedeutendste Vertreterin der semiologischen Forschung bei kulturwissenschaftlich orientierten Tagungen war Eleanor Dewey. Bei dem Internationalen Kongress „Musik und Visionen“ der Akademie für Kultur- und Wissenschaft/ISMPS in der Deutschen Welle in Köln 1999 rief sie erneut zu einer fortschrittlichen, wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Fragen der Notationskunde und der Paläographie auf.

Eleanor Dewey

Vorangegangenes

2002. Handschriften mit Musiknotation – Restauration und Analyse historischer Quellen in außereuropäischen Archiven. V. Internationales Symposium Kirchenmusik und Brasilianische Kultur. Rio de Janeiro

1999. Zeichen und Schrift. Internationaler Kongress Musik und Visionen. Deutsche Welle. Akademie für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft/ISMPS. Köln

1999. Zur kontextgerechten Transkription indigener Musik. M. Hafner. Kolloquium der Akademie für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft/ISMPS. Köln

1999. Semiologie und Interpretation des Chorals. Eleanor Dewey. IV. Internationales Symposium Kirchenmusik und Brasilianische Kultur. Maria Laach

1992. Notation von Choralbüchern in der Entdeckungszeit. Eleanor Dewey. II. Brasilianischer Kongress für Kirchenmusik. Brasilianische Gesellschaft für Musikwissenschaft/ISMPS, Bundesuniversität von Rio de Janeiro

1987. Semiologie und Interpretation des Chorals. Forschungsstand. Eleanor Dewey. I. Brasilianischer Kongress für Musikwissenschaft. São Paulo

1979-2002. Neumen, Schrift, Zahlen, Hermeneutik. Studien mit Willibrod Heckenbach OSB. Musikethnologische Sektion des Instituts für hymnologische und musikethnologische Studien. Maria Laach

1978. Dialoge über die Positionen gegen die Semiologie. Universität zu Köln

1975. Visite und Besprechungen an der Abtei Solesmes. Programm für neue Ansätze in Kultur- und Musikstudien. Solesmes

1973. Notation, Strukturlehre und Interpretation des Chorals. Vortrag einer Schola aus 400 Studenten. Fachbereich Ästhetik der Fakultät für Musik des Musikinstituts São Paulo

1970. Zwischen D. Mocquereau und D. Cardine beim Studium des Chorals. Eleanor Dewey. Zentrum für musikwissenschaftliche Forschungen/ND

1969-1970. Einführung in Neumenkunde. Internationaler Kurs und Musikfestival von Paraná. Curitiba

1968. Studien von Solange Corbin (1903-1973). Zentrum für musikwissenschaftliche Forschungen/ND

Zur Veranstaltung in Köln 2006

Im Sinne des in der Deutschen Welle in Köln vorgetragenen Plädoyers wurde 2006 eine der Übungsgruppen in Notationskunde und Paläographie des Musikwissenschaftlichen Instituts der Universität zu Köln von der von der Akademie für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft getragenen außerplanmäßigen Professur mit Schwerpunkt musikologische Kulturanalyse übernommen und getragen.

Bei dieser Übung sollte der Versuch unternommen werden, die Beschäftigung mit der Paläographie und Notationskunde, die zum Kanon der historischen Musikwissenschaft gehört, reflektiert unter Berücksichtigung semiotischer bzw. semiologischer Ansätze und Verfahrensweisen theoretisch aktualisierend zu gestalten. Darüber hinaus sollten Fragen der Notation aus der Perspektive einer Musikforschung behandelt werden, die sich auf Prozesse in globalen Zusammenhängen richtet. Dementsprechend wurde die Aufmerksamkeit nicht nur auf Notationsfragen in verschiedenen geographischen Kontexten im Spannungsraum Okzident/Orient des Mittelalters gelenkt, sondern auch auf den Stand der Studien der Paläographie bzw. Semiologie in außereuropäischen Ländern der Gegenwart.

Das praktische Erlernen von Neumen, der Grundlagen der Modal- und Mensuralnotation sowie der Tabulaturen sollte mit Studien zu der Erforschung historischer Zeichensysteme, ihrer Interpretationsmethoden und Hypothesen begleitet werden. Während des Seminars wurden entsprechend den semiologischen Studien Neumen und Neumengruppen in einzelnen Referaten eingehend betrachtet. Die Entwicklung und der Stand der Studien der Notationskunde mehrstimmiger Musik und der Instrumentalmusik wurden im zweiten Teil der jeweiligen Seminarsitzungen behandelt. Anhand einer umfangreichen Literaturliste wurden die Studien zur Geschichte der Notation, zu ihrer Lektüre und zu Tabulaturen besprochen. Dabei wurden entsprechend dem Ansatz einer Musikforschung, die globale Beziehungen im Auge hat, Notationsfragen berücksichtigt, die östliche Kontexte betreffen.

Eine besondere Berücksichtigung galt der Notation des Gregorianischen Chorals nach den verschiedenen Handschrifttraditionen. Dabei wurden die Forschungsergebnisse und Deutungsversuche der Semiologie beachtet. Allerdings sollten grundsätzliche Fragen der Semiologie vor dem Hintergrund der Gesamtdiskussion über Sinn und Lektüre von Zeichen in der Philosophie der Gegenwart diskutiert werden. Es sollten Wege gesucht werden, bei der Behandlung von Fragen der Notation Grenzen zwischen musikhistorischen und musikethnologischen Betrachtungsweisen zu überwinden.

Publikationen zur Semiotik/Semiologie für gemeinsame Besprechungen

Gottdiener, M.. Postmodern Semiotics. Material Culture and the Forms of Postmodern Life. Oxoford 1995

Kloesel, Ch., Pape, H. (Hrsg.). Charles S. Peirce. Semiotische Schriften, 3 Bde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000

Pape, H. (Hg.). Charles S. Peirce. Phänomen und Logik der Zeichen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993

------------. Naturordnung und Zeichenprozeß. Schriften über Semiotik und Naturphilosophie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998

Peirce, Ch.S..Linguistik und Semiologie. Notizen aus dem Nachlass. Texte, Briefe und Dokumente. Gesammelt, übersetzt und eingeleitet von J. Fehr. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003.

Silverman, K..The Subject of Semiotics. New York 1983


Grundlegende Werke zur praktischen Übung und Erarbeitung von Referaten

Appel, W.. Die Notation der polyphonen Musik 800-1600. t. Aufl. Wiesbaden u.a.: Breitkopf & Härtel 2006 (The Notation of Polyphonic Music, 900-1600. Cambridge MA: Mediaeval Academy of America, 1942. Publication 38)

Cardine, Eugène. Gregorianische Semiologie. Solesmes: Les Éditions de Solesmes 2003 (Gregorian Semiology, trans. R. M. Fowells, Solesmes 1972)

------------. Graduale Triplex. Solesmes 1979

Wagner, P. Einführung in die Gregorianische Melodien. Ein Handbuch der Choralwissenschaft II. Neumenkunde. 2. verb. Auf.. Leipig: Breitkopf & Härtel 1912

Wolf, J.. Handbuch der Notationskunde I. Tonschriften des Altertums und des Mittelalters. Choral- und Mensuralnotation. Leipzit: Breitkopf & Härtel 1913


Besprochene Literatur (Auswahl)

Albarosa, N.: "La scuola gregoriana di Eugène Cardine".  Rivista italiana di musicologia 9 (1974), S. 269–297.

Berchmans Göschl, J. (Hrsg.). Ut mens concordet voci. Festschrift Eugène Cardine zum 75. Geburtstag. St. Ottilien: EOS 1980

Bispo, A.A.. "Semiologia gregoriana no contexto histórico-musicológico do mundo de língua portuguesa". Revista Brasil-Europa/Correspondência Euro-Brasileira 5 (1990), 1-8

------------. "Eleanor Florence Dewey (1912-2008) Revista Brasil-Europa/Correspondênbcia Euro-Brasileira 114 (2008:4). Internet.

Fournier, Dominique. Sémio-esthétique du chant grégorien d'après le Graduel Neumé de Dom Eugène Cardine. Solesmes 1990


Gehaltene Referate

Punctum und Virga/Bivirga und Trivirga

Pes/Podatus/Clivis

Torculus/Porrectus/Climacus

Scandicus/Dreinotiger Scandicus/Viernotiger Scandicus/Erweiterte Scandicusformen
Neumengruppen/Quilisma/Apostropha

Salicus/Pressus/Oriscus/Liqueszentneumen

Orientalische Lektionszeichen

Byzantinische, russische und armenische Neumen

Lateinische Lektionszeichen

Verhältnis der Neumen zur Gesangsübung

Buchstaben und Neumen. Anfänge und Vollendung der Diastematie

Neumenschrift im späteren Mittelalter