AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

Musik in antiker Mythologie

und synkretistischer Ökumene


Universität Köln
Vorlesung – SS 2007


Prof. Dr. Antonio Alexandre Bispo


Außerplanmäßige Professur
gefördert als Stiftung für Musikologische Kulturanalyse/Kulturanalytische Musikologie
von der Akademie für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft/ISMPS

Im Anschluss an
Musik im Denken der Antike – Interkulturelle Philosophie. Seminar. Universität Köln 2004/05
Musik in der Gnosis der Spätantike. Seminar. Universität Köln 2005
und an Visite des Winckelmann-Museums, Stendal

Welche Erhabenheit und stille Größe erweckt der Anblick antiker Tempelsäulen, die noch in Ruinen zum Himmel hagen! Was für ein Unterschied zu den meist in der Nähe stehenden dumpf geduckten Kirchen mit ihrem kavernösen Inneren, voller finsterer Darstellungen, die Geschichten erzählen, die vielfach von Legenden kunden und aberglaubenverdächtig sind. Was für eine Zerstörung, eine beklagenswerte Wende der Menschheit sprechen aus diesen schockierenden Gegenüberstellungen! So ein Anblick macht mehr als verständlich, dass ein sensibler Denker wie Johann Joachim Winckelmann (1717-1768) voller erstaunlicher Begeisterung für die antike Kunst war und aus der Betrachtung weiterreichende Erkenntnisse ableitete.

Für ihn hatte der Geist vernünftig denkender Wesen eine eingepflanzte Neigung und Begierde, sich über die Materie in die geistige Sphäre der Begriffe zu erheben, und ihre wahre Zufriedenheit wäre die Hervorbringung neuer und verfeinerter Ideen, wie er in seinem „Von der Kunst unter den Griechen, aus Geschichte der Kunst des Altertums“ spricht.

Die Geschichte der Kunst des Altertums ist bei ihm keine bloße Erzählung von Zeitfolgen und Veränderungen, sondern, entsprechend einer weiten antiken Bedeutung des Begriffes, das Aufzeigen eines zugrundeliegenden Lehrgebäudes.

Bei allen Veränderungen von Ansichten im Laufe der Jahrhunderte, bei allem Bewusstsein von Risiken unzeitgemäßer Verklärungen, können Winckelmanns Ansichten Anregungen für die Gegenwart liefern. Seine größte Bewunderung galt Apollon im Belvedere, den er als das höchste Ideal der Kunst unter allen Werken des Altertums, welche der Zerstörung entgangen sind, ansah. Der Künstler habe das Werk aus einem Ideal gebaut, und er beschreibt, wie er bei der Betrachtung dieses Idealbildes von dessen Gegenwart erfüllt und in seinem Inneren bewegt wurde und gleichsam zu Orten entrückt wurde, wo ihn Apollon mit seiner Gegenwart beehrte.

Diese Begeisterung Winckelmanns galt dem Gott der Musik, demjenigen, der die Lyra von Hermes erhielt, und die seelisch-geistige Erfahrung, die Winckelmann beschrieb, ist der Musik zuzuschreiben, die, wie von den alten Theoretikern bemerkt, die Macht hat, Affekte zu bewegen. Apollon sowie Hermes als der Erfinder der Lyra gehören zum gesamten, von Winckelmann genannten Lehrgebäude, können  nicht isoliert ohne die Beziehungen zu den anderen Göttergestalten in der inneren Dynamik des Systems von Auffassungen gesehen werden. Das Ganze ist von Musik erfüllt, die das Innern des Menschen bewegt, und die Lyra ist ihr Symbol.

Museum Stendal

Zur Entwicklung der Studien

Die Beschäftigung mit den antiken Mythen, die sich auf die Musik beziehen, prägt die Geschichte der historischen Musikwissenschaft und der musikwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Musik und Musikanschauung des Altertums. Sie wurde zu einem unabdingbaren Teil des Studiums der Musikgeschichte nicht nur in Europa, sondern auch in den außereuropäischen Ländern. Sie gab auch Anregungen und Grundlagen zu Studien der vergleichenden Musikwissenschaft.

Musik und Musikanschauungen spielen in den antiken Mythen und Kulten eine grundlegende Rolle; mythische Gestalten wie Apollon, Orpheus, Hermes, Arion, Marsyas, Dionysos, Chiron u.v.a. geben Zeugnis für diese Bedeutung. Nicht nur die von Hermes erfundene und von Apollon übernommene Lyra sowie auch andere Gestalten und andere Musikinstrumente sind untrennbar mit mythischen Zusammenhängen verwoben. Götter, Helden und sonstige mythische Gestalten, die mit Musik assoziiert sind, wurden dementsprechend stets und unter verschiedenen Aspekten Gegenstand von Studien in der Musikforschung und in der Lehre. Viele der antiken Gestalten überdauerten die Jahrhunderte als Allegorien oder Uminterpretierungen. Sie wurden in Kunst, Literatur und Musik behandelt, lieferten den Stoff zahlreicher Opern und lebten in tradierten Spielen mit Inszenierungen, Musik und Tanz der christlichen Feste des Jahreszyklus weiter.

Eine adäquate Annäherungsweise an das Studium und die Analyse dieses Systems bietet nur eine Musikforschung, die interdisziplinär vorgeht und auf Prozesse ausgerichtet ist. Diese Orientierung der Kultur- und Musikwissenschaft geht zurück auf das 1968 in São Paulo gegründete Zentrum für musikwissenschaftliche Studien (Nova Difusão, ND), von dem die Debatte ihren Anfang nahm, die in den folgenden Jahrzehnten fortgeführt wurde. Das Studium der Kunst- und Architekturgeschichte sowie Ästhetik an der Fakultät für Architektur der Universität São Paulo öffnete Perspektiven zur Betrachtung der Musikästhetik und der Antikenstudien in der Musikgeschichte an der Fakultät für Musik und Kunsterziehung. Auf internationaler Ebene wurden die interdisziplinären Studien am Kunsthistorischen Institut der Universität Köln ab 1975 sowie am Römisch-Germanischen Museum fortgeführt. Sie wurden begleitet von Studien in Museen von Berlin, im Britsh Museum und in anderen europäischen Städten. Visiten der archäologischen Fundstätten des Mittelmeerraumes im Rahmen dieses Programms setzten in Kreta 1976 ein. Orpheus mit der Lyra als Vortypus Christi als Emblem des Instituts für hymnologische und musikethnologische Studien gab Anlass zu Studien und Überlegungen. In musikwissenschaftlicher Hinsicht wurden sie hinsichtlich Musikanschauungen in Antike und Mittelalter unter Anleitung von Heinrich Hüschen geführt. Der Lyra in ihrer Symbolik in der organologischen Tradition wurde die Eröffnungssitzung des Internationalen Symposiums Kirchenmusik und Brasilianische Kultur in São Paulo 1981 gewidmet. Es folgen weiteren Studien in antiken Stätten und Museen Griechenlands und in der heutigen Türkei sowie in Süditalien, Malta und Nordafrika. Der Besuch von Museen an der Schwarzmeerküste sowie in Istambul und in archäologischen Stätten auf den griechischen Inseln 2003 ließen das Anliegen aufkommen, das Thema in einem Seminar zu behandeln.

Immer deutlicher wurde im Verlaufe der Studien erkannt, dass das ganze System von Vorstellungen und Zeichen des antiken Welt- und Menschenbildes musikalischer Natur ist. Dementsprechend wurde die Untersuchung von Gestalten und Mythen des Altertums eine wichtige Aufgabe der systematischen Musikwissenschaft. Die zahlreichen Publikationen der so orientierten systematischen Musikforschung wurden dementsprechend in der Vorlesung eingehend kommentiert. Die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf das System der Bilder und Vorstellungen bedeutete eine Beachtung der diesem innewohnenden systemischen Mechanismen in ihrer Dynamik.

Museum Stendal
Museum Stndal
Museum Stendal
Museum Stendal

Vorangegangenes

2005. Musik in der Gnosis der Spätantike. Seminar. Universität Köln 2005

2004/05. Musik im Denken der Antike und Interkulturelle Philosophie. Seminar. Universität Köln

2004. Ästhetik und Ethik in der Musik. Seminar. Universität Bonn

2003. Visite von Museen und archäologischen Stätten in Griechenland und am Schwarzen Meer. Akademie für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft/ISMPS

2003. Rom. Exkursion des Musikwissenschaftlichen Seminars der Universität Bonn

2002. Musik und Symbolik. Seminar. Universität Bonn

2000. Visite von Museen und archäologischen Stätten in Karthago und Tunis. Akademie für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft/ISMPS

1999. Internationaler Kongress Musik und Visionen. Deutsche Welle, Akademie für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft/ISMPS, deutsche, brasilianische und portugiesischen Universitäten und Kulturinstitutionen. Köln

1998. Anthropos ludens. Internationales Kolloquium. Akademie für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft/ISMPS. São Paulo

1998. Visite von Museen und archäologischen Stätten Siziliens. Akademie für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft/ISMPS

1996. Visite von Museen und archäologischen Stätten in Ägypten, Zypern und Rhodos. Akademie für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft/ISMPS

1995. Visite von Museen Istambuls. Akademie für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft/ISMPS

1989. Internationales Symposium zu Christliche Traditionen und Synkretismus. Musikethnologische Sektion des Instituts für hymnologische und musikethnologische Studien. Maria Laach, Bonn

1986. Visite von archäologischen Stätten in Kleinasien. Akademie für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft/ISMPS

1984. Visite von Museen und archäologischen Stätten auf Rhodos. Akademie für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft/ISMPS

1976. Visite von Museen und archäologischen Stätten auf Kreta

1976. Musik und Musikanschauung der Antike. Heinrich Hüschen. Universität Köln

1975. Studien am Kunsthistorischen Institut der Universität Köln und im Römisch-Germanischen Museum

1975. Studien im British Museum, London und in Museen Berlins

1973. Musik und Antike in der Musikgeschichtsschreibung. Postgraduierung Musikgeschichte. Fakultät für Musik des Musikinstituts São Paulo


Museum Stendal

Zur Vorlesung in Köln 2007

Im Sommersemester 2007 wurde eine Vorlesung mit dem Thema „Musik in antiker Mythologie und synkretistischer Ökumene“ an der Universität Köln angeboten. Sie sollte den Studierenden einen Überblick über den Stand der Forschung antiker Mythologie unter dem Aspekt der Musik vermitteln und Studien erörtern, die nach einer in den letzten 30 Jahren entwickelten Forschung durchgeführt wurden. Dabei sollte besonders auf die Universalität von Auffassungen und Darstellungen eingegangen werden, die die Welt der Spätantike prägten. Die Vorlesung fand im Rahmen der außerplanmäßigen Professur an der Universität Köln statt, die sich mit dem Schwerpunkt Musik in der Kulturanalyse mit besonderer Fokussierung auf Prozesse befasst, und wurde von der Akademie für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft initiiert und getragen.

Kenntnisse der antiken Mythen sind für die Musikwissenschaft in all ihren Aspekten und Fachausrichtungen unerlässlich. Damit ist aber eine Fachbereichsgrenzen überschreitende Vorgehensweise notwendig, die historische, ethnologische und systematische Ansätze berücksichtigt. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit betrifft in erster Linie diejenige grundlegende von Musikforschung und Erforschung der Antike, hat aber eine umfassendere Bedeutung, die alle Sphären des Wissens und Forschens berührt. Untersuchungen der Bildersprache dieser Gestalten mit ihren Musikattributen setzten die Berücksichtigung des jeweiligen mythischen Kontextes voraus, und wiederum verlangt eine Bedeutungsforschung der Mythen die Beachtung der zugrundeliegenden Musikauffassungen.

Die Hörer sollten bei der Vorlesung Kenntnisse über die bisher geleisteten Arbeiten, über die laufenden Projekte, ihre Grundlagen, Beweggründe und Ziele sowie über Wendungen in der thematischen Gewichtung und den theoretischen Überlegungen erhalten. Ihnen sollten Erkenntnisse aus interdisziplinären Dialogen und den in den letzten Jahrzehnten erfolgten Besuchen von Museen und archäologischen Ausgrabungsstätten verschiedener Regionen der antiken Welt vermittelt werden.

Diese Studien unterschieden sich in ihrer theoretischen Ausrichtung und Verfahrensweise von denjenigen, die in konventionellem Sinn die antike Mythologie aus historischen, archäologischen und religionsgeschichtlichen Perspektiven betrachten, dadurch, dass sie für die Interpretation der aus schriftlichen Hinweisen, Darstellungen, Kunstwerken und sonstigen Befunden gewonnenen Erkenntnisse Impulse von gegenwärtig zu beobachtenden Permanenzen antiker Vorstellungen und Begrifflichkeiten in der Zeichensprache von Spielen mit Musik und Tanz von Volkstraditionen des Jahreszyklus gewinnen.

Das Hauptaugenmerk der Vorlesung wurde dementsprechend auf die Interpretationen des Bildes von Orpheus mit der Lyra gelegt, das in christlichen Katakomben erscheint und dem eine zentrale Rolle bei der Umwandlung von Bedeutungen in der Zeichensprache zuerkannt wurde. Diese Diskussion, die in Publikationen, Vorträgen und Tagungen ausgetragen wurde, ist nicht nur für die Semiotik, die Hermeneutik und die Kulturwissenschaft im allgemeinen von Bedeutung, sondern auch für eine Auseinandersetzung mit der Möglichkeit von Bedeutungsänderungen bei Permanenz der visuellen Darstellungsweise und somit für die Aufrechterhaltung von Kulturgütern bei Umwandlung ihres Sinngehaltes, was von besonderer aktueller Relevanz ist. Auch die in Tagungen vorgetragenen Überlegungen zu Querstrategien von Veränderungen überlieferter Zeichensprache tradierter Kultformen und Spiele wurden in der Vorlesung erörtert.

Die Erläuterung des gesamten Systems von Auffassungen, das in der Zeichensprache der Mythen und Personifikationen repräsentiert ist, sollte auch die Grundlage dafür liefern, dass die Hörer die Problematik der Synkretismusforschung erkennen, die vor allem die Musikethnologie betrifft. Die Diskussion über die Herangehensweise an sogenannte synkretistische Kultformen und ihre Deutungen in musikethnologischen Arbeiten, die zu inkohärenten Schlussfolgerungen und unbegründeten Hypothesen führten, ließ zum Vorschein kommen, dass auch die Behandlung von sogenannten synkretistischen Phänomenen der Ökumene der Spätantike einer grundlegenden Überprüfung bedarf. Eine Beachtung des gesamten Systems von Vorstellungen, das erst die Harmonisierung von Göttern verschiedener Kontexte in kohärenter Weise ermöglichte, war auch für das Erkennen der Rolle der Musik, insbesondere des Bildes der Lyra im Gesamtkomplex von Repräsentationen, erforderlich.

Archäologisches Museum Istambul