AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

JUNGE MUSIKER DES MOZARTEUMS UM 1920

Prinzipien des Schaffens in Kompositionsarbeiten

Universität Köln
1997

Dr. Antonio Alexandre Bispo


Anlass der Themenwahl:

1997 - 1887 - 1917 – Benhard von Paumgartner (1887-1971) und die Erneuerung des Mozarteums (1917)
5 Jahre nach Vortrag an der Universität Mozarteum, Salzburg


Die Erneuerung des Mozarteums von Salzburg unter Bernhard von Paumgartner am Ende des I. Weltkrieges 1917 ist unter vielfachen Aspekten als ein Ereignis von herausragender Bedeutung für die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts anzusehen. Es ist ein Markstein in der Geschichte der Bestrebungen um die Erneuerung von Lehrplänen und studentischem Musikleben, vom Unterrichts- und Konzertrepertoire, von Denk- und Sichtweisen und des Musikschaffens junger Studierender, wie sie in Konservatorien verschiedener Länder im Verlaufe des Jahrhunderts zu verzeichen sind.

Die Erneuerung des Mozarteums ist ein Vorbild für alle Bemühungen um Überwindung von veralterten und festgefahrenen Strukturen und Ansichten in Institutionen der Studien, der Lehre und der Forschung der Musik. 

An die Erneuerung des Mozarteums zu erinnern ist stets aktuell in Musikhochschulen und musikwissenschaftlichen Instituten, die die Notwendigkeit neuer Perspektiven spüren lassen. Wie Paumgartner damals erlebte, ist diese Erneuerung oft nicht einfach. Der Weg der Veränderung musste weitgehend subliminal durch eine schöpferische Transformation von Denk- und Sichtweisen erfolgen, wie in Kompositionsarbeiten der Studierenden des Mozarteums zum Ausdruck kommt.

Als Bernhard Paumgartner – der in die Geschichte vor allem als berühmter Bach- und Mozartforscher und Präsident des Salzburger Festspiels eintreten sollte – Leiter des Mozarteums in Salzburg wurde, begann eine Zeit umfassender Erneuerung der Lehrpläne und des Musiklebens der Institution, was nur durch seinen vorherigen Werdegang zu verstehen ist. Aus einer Musikerfamilie stammend – sein Vater war der Musikpubliszist und Komponist Hans Paumgartner und seine Mutter die Sängerin Rosa Papier – hatte er an der Universität in Wien und u.a. bei dem Dirigenten Bruno Walter (1876-1962) studiert. Während des ersten Weltkriegs arbeitete er zusammen mit anderen Musikern, vor allem mit dem Komponisten Felix Petyrek an der Musikhistorischen Zentrale des k.u.k. Kriegsministeriums. Nach Tätigkeit als Leiter des Wiener Tonkünstler-Orchesters wurde Paumgartner 1917 nach Salzburg zum Leiter des Mozarteums berufen. 1919 stieß Petyrek zu ihm, und damit begann die schöpferische Transformationsarbeit des psychisch-mentalen Zustandes von Studierenden und aufgeschlossenen Dozenten.

Das Leben und Wirken von Paumgartner und Petyrek in der Mozart-Stadt fiel auf das Ende des I. Weltkrieges, eine Zeit einschneidender Zäsur der europäischen Geschichte und vor allem Österreichs, die das Ende der Vielvölkerstaates der Habsburger Doppelmonarchie mit sich brachte. Es war eine Zeit, die von der Krise und vom Zusammenbruch der alten Ordnung Europas geprägt war, von der zunehmenden Erfahrung der eigenen Ohnmacht, was zu Instabilität, Unsicherheit, Umorientierungen, Umdenken führte und eine Suche nach neuen Wegen und Perspektiven verlangte.

Diese Entwicklung erklärt den Drang zur Erneuerung in Überwindung des status quo und vom Alten, der das Mozarteum erfasste und zur Berufung Paumgartners führte. Seit Jahren war die Unausweichlichkeit des nahen Endes einer auch im Musikleben von Saturiertheit geprägten Epoche zu spüren. Die Jahrhundertwende war einerseits eine Zeit überblähter Apparate, des Geregelten und Geordneten, der unverrückbar erscheinenden Denkweisen des Historismus, des Fortschrittsglaubens, fester Überzeugungen und Perspektiven, die allerdings perspektivenlos geworden waren, andererseits eine Welt, die im Innerem des Vielvölkerstaates voller Spannungen war.


Eine außerordentlich vitales Musikleben von Dozenten und Studenten im Mozarteum wird aus den Konzertprogrammen ersichtlich. Sie bezeugen, dass die Erneuerung des Repertoires sowie von Sicht- und Denkweisen durch unterschiedliche Wege gesucht wurde,  durch die Hinwendung zur alten Musik, zu Werken neuer Komponisten oder zur außereuropäischen Kultur in Dichtung und Musik. Der überkommene Historismus des über sein Ende weiterlebenden 19. Jahrhunderts erhielt durch das Spiel mit verschiedenen historischen Stilen, das Petyrek beherrschte, absurd erscheinende Züge, die der Groteske der Zeit entsprachen und dem Lebensgefühl der jungen Musiker entgegenkamen. Felix Petyrek übte mit seiner fremdartig wirkenden Persönlichkeit und befremdlich erscheinenden Ideen, Visionen und Kompositionen eine Faszination auf die Studenten aus, die sich um ihn versammelten und von ihm in ihrem Drang zum Schaffen beeinflussen ließen. Zu ihnen zählten Namen wie Tony Zell, Fried Thiede, Iphigenia Zotos, Ernst Max Hauschka-Treuenfells und M. Zallinger. Unter ihnen befand sich der junge Martin Braunwieser, der herausragenste Schüler von Paumgartner, der am Mozarteum Flöte und Bratsche studierte, als Instrumentalist in zahlreichen Konzerten wirkte und sich der Komposition widmete.

In der schöpferischen Unruhe zur Erneuerung sucht man Anschluss an die während des Krieges unterbrochenen Beziehungen zu den Ländern, die siegreich geworden waren, vor allem auch zu Musikkreisen von Paris, was die Begeisterung erklärt für Kompositionen der Groupe des Six  und vor allem für die Saudades do Brasil von Darius Milhaud (1892-1974), ein Werk mit emblematischer Funktion für die Gruppe. Ihre Mitglieder suchten neue Impulse nicht nur in der zeitgenössischen Musik, sondern auch in der Literatur und in geisteswissenschaftlichen Strömungen mit Hinwendung zum Orient. Petyrek und seine Schüler und Freunde nahmen an der Entwicklung teil, die von der Theosophie zur Anthroposophie Rudolf Steiners (1861-1925) führte, vom Zusammenschluss von Gleichgesinnten aus verschiedenen Bereichen von Wissen, Kunst und Musik geprägt war und zur Gründung des Goetheanums in Dornach führte.

Es war die Zeit von Jedermann – Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes – und vom Anfang der Salzburger Festspiele. Die enge Beziehung von Braunwieser und anderer Salzburger Musiker zu Petyrek wurde in den 1920er Jahren in Abbazia/Rijeka und Athen fortgesetzt, wohin Petyrek mit Unterstützung des am Konservatorium Athens lehrenden Braunwieser kam. Auch hier ging es um Erneuerung einer Institution, der Lehrpläne, des Repertoires und Musiklebens durch eine neue Geisteshaltung von Dozenten und Studenten, was sich ab 1927 durch die Auswanderung Braunwiesers in Brasilien fortgesetzt werden sollte, wo er sich für neue Orientierungen am Konservatorium für Musik und Drama São Paulos einsetzte.Wie die Kompositionen von Felix Petyrek, so fiel das Musikschaffen der jungen Musiker des Mozarteums in Vergessenheit. Die Kompositionen wurden und werden als befremdlich und verstörend empfunden und können nicht in die Strömungen eingeordnet werden, die die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts prägen. Die Werke Braunwiesers wurden nach einigen Aufführungen in den 1920er und Anfang der 1930er Jahren nie wieder aufgeführt, und er gab in der neuem Welt resigniert das Schaffen satztechnisch anspruchsvoller Werke auf, um sich der Erziehung, der empirischen Musikforschung und der Bach-Pflege zu widmen.

Die Wiederentdeckung dieses verschütteten Musikschaffens der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ist jedoch für eine Musikwissenschaft von Bedeutung, die kulturwissenschaftlich vorgeht und sich nach Prozessen grenzüberschreitend  richtet. Braunwieser war nicht eine Ausnahme. Es gibt mehrere Musikergestalten seiner Generation, die in verschiedenen Kontexten und Regionen im Leben und Schaffen ähnliche Entwicklungen durchmachten, sich in ihrer Jugend auch der Erneuerung der Musikkultur widmeten und in Vergessenheit geraten sind. Die Annäherung an diese Musik ruft nach geeigneten Ansätzen der Analyse, die sich nicht nur auf das Satztechnische beschränken darf. Der Blick muss sich auf die Prozesse richten, in die sich die Komponisten einfügten. Notwendig ist ein empathisches Hineinversetzen in einen psychisch-mentalen Zustand, der in einer Zeit des Sehnens nach Neuem und Fernem – „Saudades do Brasil“ – die jungen Komponisten erfüllte. Die Überwindung etablierter Strukturen, des alt Gewordenen in allen Aspekten, der Konventionen und Normen entsprach der existentiellen Erfahrung und dem Lebensgefühl der spannungsvollen Krisenzeit, die im Zusammenbruch der alten Ordnung gipfelte. Zukünftiges war nur zu erahnen, die altgewordenen Denk- und Sichtweisen mussten zunächst erschüttert werden, indem ihre Groteske entlarvt wurde, was durch Mittel der Ironie und Satire erfolgte, durch Parodie und Persiflage. Diese schwer definierbare, vage Atmosphäre des Lebensgefühls und des Drangs nach Distanzierung vom Etablierten und Normierten der nach Erneuerung strebenden Dozenten, Studenten und Intellektuellen der Zeit mag erklären, warum sie dem Fernen und Fremden hinwendeten, sei es der Musik ferner Vergangenheit, den zeitgenössischen Tendenzen fremder Länder oder der Volksmusik, die ja auch dem Bildungsbürgertum fern geworden war.


Zur Vorlesung 1997 in Köln

Fünf Jahre nach dem Vortrag am Mozarteum Salzburgs, als an dessen Reform unter Bernhard Paumgartner seit 1917 erinnert wurde, schien 1997 als Vorlesung vor der Fakultät an der Universität Köln sinnvoll zu sein, das Thema unter dem Aspekt der herbeigesehnten und nur erahnten Erneuerungen am Ende einer Zeit zu behandeln, die auch am Vorabend des 21. Jahrhunderts und des Milleniumswechseln zu spüren waren. Am Ende eines Zeitraums stellt sich mit besonderer Intensität ein Drang ein, Neues vorzubereiten. Die Betrachtungen sollen dabei helfen, ins Bewusstsein zu rufen, dass Erneuerungen nicht nur durch vorbestimmte, geplante Wege in geleiteten und rational fassbaren Entwicklungen verlaufen, sondern auch durch transversale Wege, durch Queres, das in seinen Erscheinungsformen überraschen mag und unverständlich, befremdlich, schräg erscheint, aber dennoch nicht als absurd, sondern gleichsam als Gärungs- oder Geburtsprozesse aufgefasst werden sollte. Auf diese komplexen Prozesse in ihrer Dynamik soll sich der Blick richten, dafür ist aber das Aufspüren geeigneter Positionen und Fokussierungen erforderlich. Die Suche nach adäquaten Ansätze für die Analyse dieser Prozesse verlangt auch Überprüfungen der eigenen Position, der Denk- und Sichtweisen des Betrachters. Kultur- und Wissenschaftswissenschaft bedingen sich gegenseitig.

Umorientierung von Denk- und Sichtweisen, um Neues entstehen zu lassen, ist auch ein Akt der Freiheit und des Befreiens. Die Wahrnehmung dessen, was in Konstrukten und geordneten Systemen mit ihren Strukturen und Mechanismen zum Vergangenen wird, regt zu Auseinanderetzungen an, auch zu ihrer Demontage als Voraussetzung zum Neuen. Die befreiende Überwindung vom gefühlten Überholten setzt die Relativierung ihrer Grundannahmen, Prinzipien, Positionierungen und Perspektiven, die Basis dessen, was einschränkt und fesselt, voraus. Nicht immer ist das, was geboren wird, klar definiert, vorhersehbar, es bleibt immer ein Überraschungsmoment. Neuorientierung von Denk- und Sichtweisen ist eine Entwicklung, deren Ausgang offen ist.

Auch für die Gegenwart mag gelten, dass nicht immer direkte Vorgehensweisen, diskursive, vernunftgeleitete, argumentative Auseinandersetzungen möglich und effektiv sind. Allzu starr ist die Verharrung des Etablierten, der Konventionen und Normen. Wirksam mögen Distanzierungen, Quer-Strategien der Veränderung erscheinen, die Referenzen verschieben, Bezugssysteme und Paradigmen zum Wechsel bringen. Erschüttert, demontiert oder transformiert wird Gefestigtes auch, indem in ihm Groteskes entlarvt und ausgelacht wird. Burleske, Parodie, Persiflage, Transvestie oder ironischer Spott sind spielerisch und lustig, dennoch sind sie äußerst ernst. Als strategische Handlungsweisen sind sie zugleich spontan und organisiert, auch wenn es nicht den Anschein hat, und sie sind im weiten Sinne politisch.

Der Blick der Vorlesung richtet sich am Ende des 20. Jahrhundert auf dessen Beginn, auf das Entstehen von Neuorientierungen und Sichtweisen bei der große Umwälzung, die Europa und die Welt prägte und vom I. Weltkrieg markiert ist.  Die Musik dieser Zeit bildet gleichsam die Dynamik dieses Umbruchs ab, oder besser: sie kann im Sinne eines musiklogischen Ansatzes zur Analyse von Prozessen dienen, die zum Neuen hinführten. Am augenscheinlichsten ist der Wille zur Reorganisation der Ordnung der Töne in der Dodekaphonie und in der seriellen und mikrotonalen Musik, die die Beendigung einer über Jahrhunderte sich entwickelnden, gleichsam evolutiven Linie der Musiksprache anzeigten, welche, von der Harmonie- bzw. Tonsatzlehre durchgeregelt, immer mehr expandierte, sich in Ausschöpfung der Möglichkeiten des Systems verkomplizierte und in eine Sackgasse geriet.

Auch in anderen Weisen bietet die Musik des Anfangs des 20. Jahrhunderts einen Zugang zur Analyse von Prozessen, die Umorientierungen und das Werden von Neuem bedeuteten. Unter ihnen heben sich diejenigen hervor, die durch Zugriffe auf ältere Kompositionstechniken, auf Volkstraditionen und außereuropäische Musik die vom Historismus und evolutionistischen Denken, von Sichtweisen und Hörgewohnheiten geprägten Kontinuitäten des 19. Jahrhunderts durch Verfremdung und damit auch befreiende Entfremdung überwinden. Diese Musik, wenn auch auf Historisches rekurrierend, war das Gegenteil des Historismus in seiner Ekklektizität. Sie war nicht affirmierend, sondern unterwandernd. In dieser Subversivität relativierte sie und schuf mit ihren parodistischen Zügen Distanz zum Etablierten.

Die Prinzipien des Schaffens junger Musiker des Mozarteums um 1920 können anhand ausgewählter Kompositionen von Martin Braunwieser, nämlich der 5 Gesänge aus dem Jahr 1919 mit Gedichten des Rubajat des persichen Dichters, Mathematikers und Astronomen des 11. Jahrhunderts Omar-i Chajjam (1048-1131) und des Annahof-Quartetts aus dem Jahr 1921, analysiert werden. Dadurch kann erkannt werden, dass das Befremden, das sie zunächst hervorrufen, keinesfalls zu der Annahme führen darf, dass sie willkürlich komponiert worden sind. Eine aufmerksame Analyse offenbart im Gegenteil, dass sie mit äußerster Akribie strukturiert wurden.


Die Kompositionen lassen sich analytisch in ihre Bestandteile zergliedern hinsichtlich des formalen sowie des melodischen, harmonischen und rhythmisch-metrischen Aufbaus unter Berücksichtigung anderer Aspekte wie Dynamik, Tempo und Verhältnis zwischen Text und Musik. Vom Besonderen der einzelnen Elemente des Satzgefüges kann zum Allgemeinen der konstruktiven Verfahrenswiese vorgegangen werden. Ausgehend von dem visuell feststellbaren Sachverhalt des Baukörpers wird die Struktur aufgedeckt, die zwar in der Vorlage nicht unmittelbar zu sehen ist, sich aber aus der inneren Anordnung, der Gewichtung der Teile und dem dem Satzgefüge innewohnenden Spiel der Bestrebungen ergibt. Dier Struktur kann schließlich auf ihre Zusammenhang, Ordnung und Einheit stiftenden Grundprinzipien zurückgeführt werden, was die Betrachtung auf eine Abstraktionsebene führt, in der über das Handwerkliche hinaus die Prinzipien des Schaffens des Komponisten erkennbar werden.

Der Analyse sollten nicht außermusikalische Sachverhalte zugrunde gelegt werden, sondern durch die Analyse sollten in schlüssiger Konsequenz die im Werk vorhandenen Prinzipien des Schaffens erhellt werden, die einer umfassenden, über das Akustische hinausgehenden Auffassung des Klangsphänomens verpflichtet sind. Dadurch kann die These begründet werden, dass die Prinzipien des Schaffens in Kompositionsarbeiten junger Musiker des Mozarteums um 1920 weitgehend auf einer Tonlehre gnostischer Prägung beruhen. Auch in der Forschung über das Umfeld der Zwölftonmusik wird vielfach auf eine Esoterik ihrer Schöpfer und Anhänger verwiesen, auf Auffassungen über Kosmisches bzw. über die Sphärenharmonie oder der theosophischen und anthroposophischen Gedankenwelt.


Am Beispiel des Annahof-Quartetts kann in einer rein instrumentalen Komposition erläutert werden, wie in kontrapunktistischer Tradition Verfahren wie Imitation, Kanon, Engführung, motivische Gegenbewegung und thematische Vergrößerung in einem streng konstruierten Satz verwenden wurden. Der Struktur dieser Komposition liegt die Naturtonreihe zugrunde, aus der sich das Schaffensprinzip des Komponisten ergibt. Wie bereits in der Forschung hingewiesen, fungiert die Naturtonreihe in einem Werk wie der Harmonielehre von A. Schönberg aus dem Jahr 1911 als eine Art erkenntnisleitendes Prinzip. Es kann dabei erkannt werden, dass diese Auffassungen letztlich in der Überzeugung wurzeln, dass sich auch in der Tonwelt das Hervorgehen der Vielheit aus einem einheitlichen Urgrund, aus dem Einen manifestiert.


Der Komponist der Werke berücksichtigte nach eigenen Angaben beim Schaffensprozess eine als objektiv erachtete Wirksamkeit des Tones auf den Hörer im Sinne der Raum-Werdung eines Zeit-Phänomens. Das Prinzip der Zwölfheit wurde statt desjenigen der Siebenheit vorherrschend, blieb aber stets untrennbar mit jenem verbunden. Durch die beabsichtigte Übertragung formender Kräfte des Tonphänomens auf den Menschen sollte in diesem ein komplementäres Wechselspiel entstehen, das zum einen seinen Niederschlag im satztechnischen Aufbau der Komposition findet, zum anderen das Werk als Ganzes bestimmt, da der gesetzmäßig erwartete Mitvollzug des Hörers bei der Gesamtkonzeption eingeplant wurde. Dies setzt jedoch voraus, daß der Hölrer in der Lage ist, die Musik im “Wissen um die Dinge” zu hören, d.h. dass er ein “Erkennender” ist. Eine adäquagte Analyse auch derjenigen Werke, die weniger schulmäßig diese Prinzipien des Schaffens erkennen lassen, sollte somit in ihrem Ansatz berücksichtigen, dass die Prinzipien des Schaffens Fragen von Erkenntnissprozessen betreffen. Sie waren zuweilen auch ausdrücklich gnostischer, theosophischer bzw. anthroposophischer Natur. Sie waren vor allem aber Zeugnisse von Reflektiertheit, von Auseinandersetzung mit anthropologischen Fragen und Problemen der Kultur, von einer geistigen Haltung des Hinterfragens, des Analysierens, Erforschens in grenzüberschreitenden Dimensionen und strebten nach Strukturierung von Neuem.

Das kreative und humorvolle Spiel mit historischen Verweisen auf alte Stile und Techniken war nicht historistisch illustrativ, sondern widersprach einer Denkweise evolutiver Linearität und Eindimensionalität von Entwicklungen. Die Musik war im weiten Sinne mehrstimmig und kontrapunktistisch, was auch der Begeisterung für die alte Musik der Zeit entsprach.

Als lustvolles Spiel in einer Wendezeit des Zusammenbruchs und der Gärung kam diese Musik der Geistes- und Lebenshaltung junger Musiker entgegen, die sich vernetzten und trotz aller Seriosität gründlichster Ausbildung und Ziele auch zu fröhlichem Ulk bereit waren. Sie sprenkten Grenzen und Kontexte des sich neu ordnenden Europas nach dem Krieg, waren international ausgerichtet und traten in Beziehung zu gleichgesinnten bzw. gleichbewegten Musikern aus Ländern, die sich vorher bekriegt hatten. Es war die Zeit der Entstehung der Internationalen Gesellschaft für Zeitgenössische Musik. Die Begeisterung für den Orient entsprach nicht nur geisteswissenschaftlichem Streben, sondern auch der Auseinandersetzung mit der Literatur und mit der Musikkultur der islamischen Welt, von Indien und China.

Diese Musik wirkte jedoch auch in späteren Jahrzehnten als befremdlich, wurde in ihrer anscheinenden Abstrusität nicht verstanden, ihre Komponisten wurden weitgehend vergessen. Sie verdient jedoch besonders beachtet zu werden, da sie Prozesse mittrug, die Folgen zeitigten nicht nur in Mitteleuropa, sondern auch in Südosteuropa und gar Brasilien. Sie ist für eine nicht nur gesamteuropäische, sondern globale Musikbetrachtung des 20. Jahrhunderts von Bedeutung. Sie ist von ihren Anfängen an auf das Engste mit der Musikforschung verbunden, sowohl der historischen Musikwissenschaft, als auch der empirischen Erforschung der Volksmusik sowie der Musik nicht christlich-abendländischer Kontexte.

Unter vielen Aspekten erweist sich diese in der Musikforschung kaum beachtete und verstandene Entwicklung als von erstaunlicher Aktualität in Zeiten der Diskussion um Moderne und Postmoderne. Fast wie in einem Déjà-vue verweisen die nur als schräg empfundenen und wenig beachteten Kompositionen, das Denken und die Initiativen von Musikern, die vor hundert Jahren jung waren, auf Sinn und Wirksamkeit transversaler Vorgehensweisen für Neuorientierungen, für Distanzierungen, für Quer-Strategien von Veränderungen hin.

Die 1960er Jahren des 20. Jahrhunderts bieten Beispiele für die Macht dieser weitgehend spontan verlaufenden Prozesse der Überwindung von Etabliertem im nicht immer bewussten, logisch nachvollziehbaren Sehnen und Drang nach Neuem. Viele Länder der Welt wurden von diesem zugleich fröhlichen und ernsten Streben nach Überwindung des Erstarrten und der Konventionen erfasst, dessen Referenzjahr 1968 ist. Damals wurde den Ansatz einer sozial- und kulturwissenschaftlich orientierten Musikforschung gelegt, die sich nach Prozesse orientiert und bereits in den 1970er Jahren auch in Köln nach einem vom DAAD geförderten Programm hätte stärker diskutiert werden sollen. An diesen Ansatz prozessorientierter Kultur- und Musikforschung war in Zeiten der Wende zum 21. Jahrhundert angesichts einer nötig erscheinenden Neuorientierung der musikwissenschaftlichen Studien zu erinnern.

Akademie junger Musiker des Mozarteums um 1920
Moderne Musik am Mozarteum Salzburgs. Delius, Paumgartner, Petyrek, Kornauth, Grosz. Archiv ISMPS. Copyright A.A. Bispo
N° 1 der 5 Gesänge nach Omar Kaijan von M. Braunwieser
Anna Hof Quartett von Martin Braunwieser, Mozarteum
Beginn des Anna Hof Quartetts von Martin Braunwieser 1921. Archiv ISMPS. Copyright ISMPS

Vorausgegangenes

1992. 100 Jahre von Felix Petyrek (1892-1951). Akademischer Akt. In memoriam Martin Braunwieser (1901-1991). Musikhochschule der Bundesuniversität Rio de Janeiro, Nationalbibliothek. Historisches und Geographisches Institut Brasiliens.Österreichisches General Konsulat. Brasilianische Gesellschaft für Musikwissenschaft, u.a. Rio de Janeiro

1992. Vortrag über Martin Braunwieser (1901-1991) als Schüler von Paumgartner an der Universität Mozarteum. Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salzburg

1991. Überreichung an Martin Braunwieser der Publikation über sein Leben und Wirken. Brasilianische Gesellschaft für Musikwissenschaft. ISMPS. Bach-Gesellschaft São Paulos. São Paulo

1989. Dialoge mit Martin Braunwieser in Salzburg: Geschichte des Mozarteums, Jedermann und Salzburger Festspiel. ISMPS. Universität Mozarteum und Dommusik

1989. Vortrag von Martin Braunwieser für die musikethnologische Sektion des Instituts für hymnologische und musikethnologische Studien. Internationales Symposium Traditionen und Synkretismus. Maria Laach

1989. Die Fakultät Mozarteum São Paulos und das Mozarteum in Salzburg. Vortrag von Dozenten des Mozarteums São Paulos. Tagung der portugiesischsprachigen Migration. ISMPS. Kulturamt der Stadt Köln

1987. Österreich und die Vergleichende Musikwissenschaft in Brasilien. Sitzung zum Stand der musikethnologische Forschung, Vorsitz M. Braunwieser. 100 Jahre B. Paumgartner. Brasilianischer Kongress für Musikwissenschaft. Regierung des Staates São Paulo. Brasilianische Gesellschaft für Musikwissenschaften. Universität des Staates São Paulo, u.a. São Paulo

1984. Deutsch-Österreichisches Musikforum mit Musikschulwoche. Sigismund von Neukomm (1778-1859). Leichlingen

1983. Studienzyklus Österreich-Ungarn. Vorbereitung des Deutsch-Österreichischen Musikforums mit Musikschulwoche in Leichlingen. Prag, Wien, Budapest

1982. Deutsch-Brasilianisches Musikforum mit Musikschulwoche. Das Mozarteum und die Musikpädasgogik in Österreich und Brasilien. Leichlingen

1981. Zusammenarbeit mit Anton Dawidowicz, Domkapellmeister Salzburg. I.Internationales Symposium Kirchenmusik und Brasilianische Kultur. São Paulo

1981. Studien und Besprechungen in Salzburg. Vorbereitungen zur Gründung der Brasilianischen Gesellschaft für Musikwissenschaft

1974. Die Bach-Forschung Spittas und Paumgartners – Bach-Bewegung in Deutschland und Brasilien. Kolloquien mit Volker Gwinner. Johannes Kantorei, Lüneburg

1972. Verabschiedung von M.Braunwieser aus der Fakultätsleitung. Vergleichende Musikwissenschaft und Musikethnologie. Einführung des Fachbereiches Musikethnologie an der Musikfakultät des Musikinstituts von São Paulo

1970. Das Beispiel Mozartem. Erneuerung der Lehrpläne des Konservatoriums J. América als Zentrum für musikwissenschaftliche Forschung. São Paulo

1970. Das Beispiel Mozarteuum.Erneuerung der Lehre und Forschung der Fakultät für Musik und Musikerziehung des Musikinstituts São Paulo

1971. Gedenkakt in memoriam B.Paumgartner. Fakultät für Musik und Musikerziehung des Musikinstituts São Paulo

1968-1973. Studien und Assistenz von M. Braunwieser. Vergleichende Musikwissenschaft/Musikethnologie. Fakultät für Musik des Musikinstituts von São Paulo

1967. Gespräche mit Kurt Pahlen (1907-2003) und L. Ellmerich zu Österreich und Brasilien. Bewegung zur Erneuerung der Kultur- und Musikstudien. São Paulo