AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

 INTERAMERIKANISCHE PROZESSE IN DER KARIBIK

MUSIK UND KULTURANALYSE

Prof. Dr. Antonio Alexandre Bispo


Universität zu Köln
Vorlesung WS 2004/2005


Außerplanmäßige Professur
gefördert als Stiftung für Musikologische Kulturanalyse/Kulturanalytische Musikologie
von der Akademie für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft/ISMPS

20 Jahre: Regionaltreffen für Lateinamerika und Caribe in Mexiko-City des Projekts Music in the Life of Man
International Music Council/UNESCO (1985)

Im Anschluss an die Seminare
World Music und Cultural Studies, Universität Bonn 2003/04
Zur Vorbereitung von Besprechungen in Institutionen von Puerto Rico, Aruba, St. Maarten und St. Thomas, März 2005





Son, Conga, Rumba, Mambo, Calypso, Merengue, Salsa und viele andere Musik- und Tanzerscheinungen der Karibik wecken Assoziationen an ausgelassene Lebensfreude und Urlaubsstimmung unter Palmen. Längst sind sie auch zu World Music avanciert und haben Musikentwicklungen in anderen Erdteilen beeinflusst, sei es in Afrika, sei es in Asien. Bei näherer Betrachtung erweist sich ihre herausragende Bedeutung für die Kulturidentität der vielen Länder des zirkumkaribischen Raumes und für Migranten-Gruppen, die vor allem in den USA leben. Die faszinierende Vielfalt von Musikstilen und Vortragspraktiken bildet eine Verflechtung musikalischer Wechselbeziehungen größter Komplexität, die Länder mit unterschiedlicher Kolonialgechichte und sprachlicher Zugehörigkeit erfasst.

Volkstradition St. Kitts. Foto A.A.Bispo

Die Musikkultur der Karibik bietet somit ein ideales Untersuchungsfeld interamerikanischer Prozesse, die die Grenzen zwischen Süd-, Mittel- und Nordamerika durchlässig machen. Sie mag in exemplarischer Weise dazu dienen, aktuelle Ansätze der Kulturanalyse kennenzulernen und zu erprobem. Das Studium der Musik in der Karibik ist untrennbar mit der Entwicklung des Bewusstseins für das Gesamtamerikanische und für pan-, trans- und interamerikanische Bestrebungen und Initiativen verbunden. Das Anliegen, die Beziehungen zwischen den Nationen Süd-, Mittel- und Nordamerikas zu stärken, die Trennung zwischen den Ländern zu überwinden, hatte nicht nur politische und wirtschaftliche Ziele, sondern war bereits um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert mit Kulturidealen verbunden, wurde sogar mit kulturgeschichtlichen Argumenten begründet.

St. Kitts. Foto A.A.Bispo

Der Annäherung der amerikanischen Nationen untereinander standen die aus der Kolonialvergangenheit und aus den Unabhängigkeits- und Einwanderungsprozessen stammenden sprachlichen und kulturellen Beziehungen im Wege. Sie bestimmten geokulturelle Orientierungen und Perspektiven. So war Brasilien als das portugiesisch sprechende Amerika zum Atlantik hin orientiert und stand mit dem Rücken zum spanisch sprechenden Amerika. Die Beziehungen zu den anderen lateinamerikanischen Nationen waren weitgehend von Distanz geprägt. Die Kolonialgeschichte war – und ist – im gesamten Kontinent nicht ganz abgeschlossen. Die Guianas und viele Inseln der Karibik bleiben europäischen Mächte politisch verbunden. Während einige von ihnen – z.B. Kuba oder die Dominikanische Republik – durch die geschichtlich gewachsene Bindung zu Spanien zu Lateinamerika gehören, fügen sich von der englischen Kolonialzeit geprägte Länder wie Britisch-Guayana und mehrere Inseln der Karibiik in den anglophonen Raum mit den Vereinigten Staaten ein.

Die Bindungen zu Frankreich und zu den Niederlanden der entsprechenden Guyanas und anderer Insel der Karibik, ob längst unabhängig wie Haiti oder wie viele andere noch politisch, wirtschaftlich und kulturell abhängig, gewährleisten weiterhin die Präsenz europäischer Kolonialmächten auf dem Kontinent, die die ehemals führende Rolle Portugals und Spaniens übernommen hatten. Da auch Dänemark in der Karibik präsent ist, wird die Komplexität der gewachsenen Beziehungsgeflechte offensichtlich. Die Besiedlungs- und Wirtschaftspolitik sowie die Konflikte um die Herrschaft europäischer Nationen im karibischen Raum in der Vergangenheit prägten Geschichtsbewusstsein und Orientierungen in allen Bereichen des Lebens.

Curaçao. Foto A.A.Bispo

Die interamerikanischen Bestrebungen zur Annäherung der Nationen des Kontinents bezogen sich primär auf die der lateinamerikanischen Länder zu den Vereinigten Staaten. Sie wurden maßgeblich von den USA gefördert, und dies prägte auch die Annäherung der portugiesisch und der spanisch sprechenden Länder Lateinamerikas untereinander. Der karibischen Raum in seinen komplexen Verflechtungen von Beziehungen zu verschiedenen Kontexten Europas wurde bei den interamerikanischen Bestrebungen eher am Rande beachtet mit Ausnahmen der lateinamerikanisch geprägten oder eng mit den USA verbundenen Inseln wie Kuba und Puerto Rico.

Die Notwendigkeit einer anderen geopolitischen Annäherung an den karibischen Raum bei gesamtamerikanischen Bestrebungen machte sich besonders bemerkbar in angrenzenden Regionen des Festlandes. Auch im brasilianischen Guyana – Amapá – oder in Marajó/Pará und Amazonas, die in Musiktraditionen Beziehungen zum karibischen Raum erkennen lassen, war das Bewusstsein für eine stärkere Berücksichtigung der Karibik in den gesamtamerikanischen Bestrebungen ausgeprägt.

Entwicklung der Studien

Markstein in der Geschichte interamerikanischer Bestrebungen in der Musikforschung war die Gründung des Interamerikanischen Instituts für Musikwissenschaft in den 1930er Jahren. Es ist nicht belanglos, das es in Montevideo errichtet und vom Außenministerium Uruguays unterstützt wurde, das damals eine besonders bedeutende Rolle für die internationalen Beziehungen in der La Plata-Region spielte. Es ist auch nicht zufällig, dass von dort Bestrebungen zur Annäherung von Brasilien an die übrigen ibero-amerikanischen Länder Südamerikas ausgingen. Die Initiativen und Publikationen des Interamerikanischen Instituts, wenn auch von Bedingungen und Auffassungen der Zeit geprägt, wurden in Pionierweise maßgebend für das gegenseitige Kennenlernen der Musik der Nachbarländer und den Austausch von Studien und Anliegen, ließ aber auch den karibischen Raum nicht völlig unberücksichtigt. Diese Bemühungen, die auch mit Widerständen nationalistisch geprägter Länder konfrontiert wurden, konnten nur in eine neue Phase eintreten, als das Bewusstsein für die Notwendigkeit der Überwindung dieser Barrieren des nationalgeprägten Denkens in der Mitte der 1960er Jahren geweckt wurde.

Mit der Gründung des Zentrums für musikwissenschaftliche Studien 1968 in São Paulo, das eine Erneuerung von Sicht- und Verfahrensweisen durch die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Prozesse anstrebte, wurden die Voraussetzungen geschaffen, um Perspektiven zu ändern. 1972 wurde dementsprechend eine von diesem Zentrum ermöglichte Reise zum Interamerikanischen Institut für Musikforschung in Montevideo für einen Gedankenaustausch realisiert, die mit einem Kolloquium in Punta del Este ihren Abschluss fand.

Die interamerikanischen Studien wurden im Rahmen des Programms zur prozessorientierten Kultur- und Musikforschung ab 1974 in Europa fortgesetzt. Die  Mitwirkung an dem von Robert Günther geleiteten Projekt zu Musikkulturen Lateinamerikas des 19. Jahrhunderts an der Universität Köln förderte die Zusammenarbeit mit Forschern aus karibischen Ländern, die die weitere Entwicklung prägte.

1982 fand unter Mitwirkung des Interamerikanischen Instituts ein Musikforum in Leichlingen/Köln zur 300-Jahr-Feier der deutschen Migration nach Nordamerika statt, bei dem die Interaktionen zwischen transatlantischen und interamerikanischen Prozessen in Geschichte und Gegenwart hervorgehoben wurden. Die Untersuchung von Verflechtungen interamerikanischer und transatlantischer Prozesse, die natürlich nicht nur euro-amerikanische, sondern auch afro-amerikanische bedeuteten, wurde bei Forschungen von Musik- und Tanztraditionen in Amapá und Pará, insbesondera auf der Marajó-Insel, in den 1980er Jahren fortgesetzt. Diese Studienreise wurde vom Institut für Studien der Musikkultur des portugiesischen Sprachraumes initiiert und ermöglicht.

Bei Regionaltreffen zu Lateinamerika und der Karibik des Projekts Music in the Life of Man/A World History of Music des Internationalen Musikrates/UNESCO in Mexico City 1985 und São Paulo 1987 wurde die Notwendigkeit hervorgehoben, dem karibischen Raum vermehrt Aufmerksamkeit in der Musikgeschichte in globalen Zusammenhängen sowie in einer auf Kulturprozesse ausgerichteten Musikethnologie zu widmen.

Anlässlich des internationalen musikwissenschaftlichen Kongresses zum 500. Jahr der Entdeckung Amerikas 1992 in Rio de Janeiro wurde von Robert Stevenson, University of California, dem herausragenden Erforscher der Musikgeschichte der Karibik, angemerkt, dass sich die interamerikanischen Musikstudien noch allzu sehr auf das portugiesisch und spanisch sprechende Lateinamerika beschränkten und den französisch, englisch, niederländisch, dänisch sowie nordamerikanisch geprägten Ländern des karibischen Raumes und Südamerikas zu wenig Beachtung geschenkt wurde.

Als Beitrag zur Verwirklichung des Anliegens, die Antillen und die angrenzenden Länder Nord-, Mittel- und Südamerikas stärker in die Musikforschung in internationalen Kooperationen einzubeziehen, wurden von der Akademie für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft/ISMPS im Sinne des Projekts Music in the Life of Man/IMC/UNESCO Reisen u.a. nach Kuba, Santo Domingo, Haiti, Puerto Rico, Grenada, Santa Lucia, St. Martin, St. Thomas, Aruba, Curaçao und Virgin Islands, Guadeloupe sowie Länder des zirkumkaribischen Festlandes wie Kolumbien, Panama, Costa Rica und Mexiko unternommen. Bei diesen Reisen wurden Institutionen besucht und Gespräche mit Musikern sowie Musik- und Kulturforschern geführt und aktuelle Projekte sowie Probleme, Gewichtungen und Tendenzen des Denkens besprochen. Eine besondere Aufmerksamkeit galt den karibischen Gemeinden in den Vereinigten Staaten. Um den Stand der Studien sowie die Tendenzen des Denkens an Ort und Stelle zu betrachten, wurden Zentren an amerikanischen Universitäten besucht und Gespräche geführt.

Vorangegangenes

2003. Besprechungen in Universitäten der USA und der Karibik. Jamaika, Santiago de Cuba, Dominikanische Republik

2001. Besprechungen an der Nationalbibliothek, Musikkonservatorium und Erzbistum Kubas. Havanna (September-Oktober)

2001. Beobachtungen in Haiti und Besprechungen in Institutionen der Dominikanischen Republik (März)

2000. Besprechungen im Center for Latin American Studies. Berkeley (CLAS)

1999. Internationaler Kongress Musik und Visionen. Deutsche Welle. Akademie für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft/ISMPS. Brasilianische Botschaft in Bonn, portugiesische und brasilianischen Universitäten

1999. Besprechungen in Antigua, Guadeloupe, Grenada, Santa Lucia, Virgin Islands

1997-2000. Vorlesungen zur Karibik in der Vorlesungsreihe Musik in der Begegnung der Kulturen. Universität Köln

1994. Karibik, Amapa und Marajó. Bundesuniversität von Pará und Institut für Inkulturation. Studienzyklus des ISMPS

1993. Acre, Mittelamerika und Antillen. Besprechungen im Kultursekretariat des Staates Acre. ISMPS und Kulturhaus von Rio Branco

1992. Brasilianischer Kongress zum 500-Jahr-Gedenken der Entdeckung Amerikas. Vortrag von Robert Stevenson. Brasilianische Gesellschaft für Musikwissenschaft, ISMPS, Bundesuniversität von Rio de Janeiro u.a. Rio de Janeiro

1987. Regionaltreffen für Lateinamerika und Karibik des Projekts Music in the Life of Man des IMC/UNESCO. São Paulo

1985. Regionaltreffen für Lateinamerika und Karibik des Projekts Music in the Life of Man des IMC/UNESCO. Mexico-City

1985. Gründung des Instituts für Studien der Musikkultur des portugiesischen Sprachraumes e.V.

1983. Transatlantik und Interamerikanismus. Deutsch-amerikanisches Musikforum mit Musikschulwoche. Leichlingen

1978. Beginn der wissenschaftlichen Beziehungen zu Robert Stevenson, Santa Barbara, California

1975. Mitwirkung am Projekt Musik Lateinamerikas im 19. Jahrhunderts, koord. Robert Günther. Universität Köln

Guadeloupe. Foto A.A.Bispo

Zur Vorlesung in Köln 2004/05

Im WS 2004/05 wurde an der Universität Köln eine Vorlesung zum Thema Musik und Kulturanalyse – Interamerikanische Prozesse in der Karibik gehalten. Die Vorlesung fand im Rahmen der außerplanmäßigen Professur statt, die sich der musikwissenschaftlichen Kulturanalyse durch die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Prozesse widmet, und wurde von der Akademie für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft initiiert und getragen. Sie verstand sich als ein Beitrag sowohl zu einer Öffnung von Perspektiven für die historische Musikwissenschaft, die sich meist nur auf das kontinentale Europa beschränkt, wie auch und vor allem für eine als notwendig erachtete Erneuerung  in der Musikethnologie.

Die Vorlesung war mit ihrer Ausrichtung auf Prozesse grundsätzlich grenzüberschreitend orientiert, was nicht nur die interne Einteilung von Fachbereichen nach historischen, ethnologischen und systematischen Kriterien betrifft, sondern auch hinsichtliche der interdisziplinären Überwindung von Trennungslinen zu anderen Wissens- und Forschungsbereichen, wie der Amerikanistik, der Lateinamerikanistik, der Ethnologie und der Medien- und Kommunikationsforschung. Da sie trans- und interkontinentale Prozesse zum Thema hatte, war sie nicht nur mit gesamtamerikanischen, sondern mit den transatlantischen und den afro-amerikanischen Studien besonders verbunden.

Der Vorlesung gingen Besprechungen in Universitäten und anderen Kulturinstitutionen verschiedener Länder der Karibik, Mittelamerikas und des nördlichen Südamerika sowie der USA voraus, bei denen der Stand der Forschung und der Kulturförderung sowie deren Probleme thematisiert wurden. Dabei wurde ein engerer Austausch zwischen europäischen und karibischen Forschern als wünschenswert hervorgehoben, wobei die karibischen Stimmen, ihre Positionierungen, Perspektiven und Ansätze gehört werden sollten. Dementsprechend sollte bei der Vorlesung nicht über die Karibik doziert, sondern mit der Karibik gesprochen werden. Über eine Analyse von Prozessen in der Karibik ausgehend von ausgewählten Beispielen von Musik und Musikinstrumenten, Tänzen und Spielen, die dort an Ort und Stelle beobachtet wurden, wurde die Aufmerksamkeit auf Strömungen des Denkens, Positionen und Orientierungen sowie Institutionen und Netzwerke gerichtet und somit wissenschaftswissenschaft vorgegangen.

Die in verschiedenen Ländern der Karibik gewonnenen Erkenntnisse wurden unter der Perspektive aktueller Ansätze und Modelle der Kulturanalyse betrachtet, die vor allem mit dem Namen von Mieke Ball, Professorin für Literaturtheorie an der Universität Amsterdam ab 1993 und Gründerin des Amsterdamer Instituts für Kulturwissenschaften, verbunden sind. Kulturanalyse stellt in diesem Sinne einen anderen Ansatz kulturwissenschaftlicher Betrachtung als der der britischen Cultural Studies dar, was auch in der Musikforschung zu berücksichtigen ist.

Guadeloupe. Foto A.A.Bispo