AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

Theorie der Musik im Mittelalter

Vom Dialog der Kulturen und Religionen

Universität zu Köln
Proseminar – SS 2005



Prof. Dr. Antonio Alexandre Bispo


Außerplanmäßige Professur
gefördert als Stiftung für Musikologische Kulturanalyse/Kulturanalytische Musikologie
von der Akademie für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft/ISMPS

Aus Batalha-Studien: 1973-1982-1996-1998

Andenken an Heinrich Hüschen (1915-1993) - 90 Jahre


65 Jahre: Gustav Reese, Music in the Middle Ages: With an Introduction on the Music of Ancient Times (1940)

Parallelveranstaltung zu
Musik und Gnosis in der Spätantike
Der kulturwissenschaftliche Ansatz in der Musikwissenschaft

Im Anschluss an
Internationales Kolloquium interkultureller Studien. Akademie für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft/ISMPS und Universitäten Köln und Bonn. São Paulo und Rio de Janeiro 2004


Die Aussagen zu Musik im Schriftum des Mittelalters gehören zu den Grundlagen der Beschäftigung mit der Geschichte der Musik. Sie werden seit jeher in Gesamtdarstellungen zumindest punktuell zur Musikgeschichte erwähnt und gehören zum Wissen, das in Konservatorien und im Musikunterricht in Schulen in Europa und in zahlreichen außereuropäischen Ländern vermittelt wird. Es gibt wohl kaum einen Absolventen von Konservatorien, der nicht zumindest den Namen des Benediktiners Guido von Arezzo (um 992-1050) kennt. Sie wissen einiges über seine Bedeutung für die Geschichte der Notation auf vier Linien, des Hexachordsystems, der guidonischen Hand und der Solmisationstechnik, für die Praxis, die Töne mit den Anfangssilben der Zeilen des Johannes-Hymnus Ut queant laxis (8. Jahrhundert) zu benennen, die noch heute weltweit gültig ist. Sie wissen, dass hierbei der Ersatz der Silbe ut von Ut queant laxis durch Do auf Giovanni Battista Doni (1593-1647) zurückgeht. Allein die Verbreitung dieser rudimentären Kenntnisse bringt ins Bewusstsein die Verwobenheit einer auch in außereuropäischen Ländern tradierten und häufig nicht hinterfragten musikschichtlichen und -theoretischen Wissenskultur mit einem Geschichtsverständnis, das von kulturgeschichtlichen Prozessen in Europa ausgeht und somit von einer Denk- und Sichtweise geschichtlicher Vorgänge, die europäisch zentriert ist. Die eingehenderen Studien der Musiktheorie des Mittelalters prägten von Anfang an die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Geschichte der Musik Europas, ihre Institutionalisierung an Hochschulstudien und Universitäten und ebenfalls die Musikwissenschaft als Lehr- und Forschungsbereich in Universitäten außereuropäischer Länder, die sich vielfach wie in Europa auf die historische Musikwissenschaft beschränken. Auch die Musikwissenschaft und ihre Forscher in diesen Ländern fügen sich in eine Strömung der Studien und des Denkens ein, die auf Entwicklungen im europäischen Mittelalter zurückführt.

Mosteiro da Batalha. Seminar Musiktheorie im Mittelalter von A.A.Bispo

Viele herausragende Vertreter der historischen Musikforschung Europas sind weltweit zu Leitgestalten in Lehrveranstaltungen und akademischen Arbeiten in Graduierungskursen an Universitäten, Doktorarbeiten und musikwissenschaftlichen Gesellschaften und Projekten geworden. Einige von ihnen verweisen auf enge Beziehungen zwischen der Erforschung des Mittelalters und der Kirchenmusikforschung, auf die gregorianischen Studien des 19. Jahrhunderts und somit auf die Leitfigur Gregorius Magnus. Einige sind selbst mit der Kirche verbunden wie der herausragende Forscher Joseph Smits van Waesberghe (1901-1986). Diese Nähe zur Kirche und zum theologischen und kirchengeschichtlichen Denken ist verständlich, da die Studien vor allem Kirchenmusik betreffen und die Mehrheit der mittelalterlichen Gelehrten Geistliche waren.

Es ist bemerkenswert, dass wichtige Studien, Publikationen und Forschungsunternehmungen nicht in Europa, sondern in den USA entstanden sind, was bezeugt, dass sich die europäische Zentrierung der Forschung und des Geschichtsbewusstseins nicht auf geographische Grenzen der Kontinente beschränkt, sondern auf einer kulturellen, mental-psychischen Ebene abläuft. Ein herausragendes Beispiel ist das Werk von Gustav Reese (1899-1977), der in New York geboren ist und in Berkeley starb, der 1940 sein „Music in the Middle Ages. With an introduction on the music of ancient times.“ (W.W. Norton & Co., New York) veröffentlichte. Er war Mitbegründer der „American Musicological Society“ (AMS), derer Vorsitzender zwischen 1950 und 1952, eine Position, die er auch in der International Musicological Society (IMS) bekleidete. Sein Werk zur Musik des Mittelalters und auch das zur Musik der Renaissance werden in Kreisen von Musikern und Forschern, die sich der alten Musik widmen, nicht nur in Europa, sondern auch in anderen Ländern des amerikanischen Kontinents seit langem rezipiert. Die Beschäftigung mit der Musik des Mittelalters erfolgte somit bemerkenswerterweise vielfach über den Umweg der USA, was allerdings nicht die Zentrierung des Denkens änderte und gleichsam eine Rezeption von Rezepiertem bedeutete.

Mosteiro da Batalha. Seminário Theorie der Musik im Mittelalter von A.A.Bispo

Die eingehende Beschäftigung mit der Theorie des Mittelalters beschränkt sich nicht auf spezifisch musiktheoretische Aspekte hinsichtlich der Notation, der Tonarten, des Hexachordsystems, der Anfänge der Mehrstimmigkeit u.a., sondern betrifft auch Theoretisches im Sinne von Auffassungen und Vorstellungen über die Musik, ihrer Definition, ihres Ursprungs, ihrer Einteilung, Funktion und Wirkung, ihrer Stellung im Kreis der Freien Künste, ihrer theologischen Bedeutung, was eigentlich die Hauptgewichtung in der Behandlung der Musik in den mittelalterlichen Traktaten bildet. Sich mit der Theorie des Mittelalters befassen bedeutet vornehmlich, die Denk- und Sichtweisen der mittelalterlichen Theoretiker und ihrer Netzwerke zu beachten, die Denktraditionen, in die sie sich einfügten, die bildhaften, auf die Antike zurückweisenden Überlieferungen, die sie weitertrugen, und die Anzeichen innovativer Ansätze, die sie offenbarten. Selbst bei Guido von Arezzo ist das Bild von Pythagoras an der Schmiede zu finden, und Definitionen und Vorstellungen über Ursprünge, Einteilungen und Wirkungen der Musik weisen auf antike Auffassungen und mythische Erzählungen einerseits, auf biblische Aussagen und ihre Deutung bei Kirchenvätern und gelehrten Männern der Kirche andererseits hin. Gerade das Musiktheoretische in den Traktaten verweist auf die Interaktionen der antiken Kultur der griechisch-römischen Sphäre mit der jüdischen und christlichen Schriftbezogenheit, auf eine prozesshafte Transformation, eine weitreichende Umdeutung des Systems von Auffassungen und Vorstellungen des Welt- und Menschenbildes, auf die Durchsetzung eines räumlichen Referentials und eines Geschichtsbewusstseins, die durch die biblische Historie bestimmt sind. So gesehen ist die Beschäftigung mit der Theorie der Musik des Mittelalters zugleich ein Studium der Musik in der Theorie, d.h. der Rolle der Musik in einem theoretischen Gesamtsystem von Auffassungen des Welt- und Menschenbildes.

Die Quellenforschung, die Auffindung von Schriften und ihre wissenschaftliche, kontextgerechte Untersuchung unter dem Aspekt der Musik ist eine Vorbedingung zum Studium der Musiktheorie bzw. der Musik im theoretischen Denken des Mittelalters. Die Leistung, die Forscher bei diesen mühsamen Studien erbracht haben, kann nicht hoch genug geschätzt werden. Einzelne Autoren oder Traktate wurden zum Thema von Dissertationen. Da sie vor allem philologisch orientiert sind, da sie vor allem von der Philologie und ihren Fragestellungen geprägt sind, liegt in der Natur der Quellen, da diese vor allem auf Latein verfasst sind, übersetzt werden und dadurch auch Terminologisches in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Ein herausragendes rezentes Beispiel ist die Studie von Michael Witmann Vox atque sonus: Studien zur Rezeption der Aristotelischen Schrift „De anima“ und ihre Bedeutung für die Musiktheorie (Pfaffenweiler: Centaurus 1987, Musikwissenschaftliche Studien 4).

Mosteiro da Batalha. Seminário Theorie der Musik im Mittelalter

Die Erforschung des Schrifttums des Mittelalters lenkt den Blick auf das Mittelmeeer und auf die iberische Halbinsel und bringt somit ins Bewusstsein, dass bei der Forschung nicht nur die Rezeption des antiken Denkens in seiner Transformation beim Verchristlichungsprozess und die internen Konflikte im christlichen Europa beachtet werden müssen, sondern auch die Auseinandersetzung mit dem Islam, die die mittelalterliche Geschichte prägte. Die Bedeutung des Mittelmeerraums für die Weitergabe des antiken Wissens ist durch das enzyklopädische Werk Etymologiarum sive originum libri XX von Isidor von Sevilla (um 560-636) bezeugt, dessen Bedeutung für die Musikforschung von Heinrich Hüschen (1915-1993) herausgestellt wurde. Schon seit langem wurde allerdings auch die Bedeutung islamischer Gelehrter von der Musikforschung anerkannt, vor allem von al-Fārābī (Abū Nasr Muhammad al-Fārābī ca.872-ca.950) und  von Avicenna (Abū Alī al-Husain ibn Abd Allāh ibn Sīnā, um 980-1087), deren Schriften in lateinischer Übersetzung in Europa gelesen wurden und die über komplexe Rezeptionsumwege Auffassungen griechischer Philosophie in die christliche Welt vermittelt haben. Die Interaktionen von jüdischen und islamischen Wissenskulturen zeigen sich u.a. bei dem Franziskaner aus Mallorca Ramon Llul (1232-1316).

Mosteiro da Batalha. Seminário Theorie der Musik im Mittelalter von A.A.Bispo

Vorangegangenes


2004. Ästhetik und Ethik in der Musik. Seminar. Universität Bonn

2003. Rom. Exkursion des Musikwissenschaftlichen Seminars der Universität Bonn

2002. Musik und Symbolik. Seminar. Universität Bonn

2002. Musik und Religion. Seminar. Universität Bonn

1999. Internationaler Kongress Musik und Visionen. Deutsche Welle, Akademie für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft/ISMPS, deutsche, brasilianische und portugiesische Universitäten und Kulturinstitutionen. Köln

1999. Bildersprache tradierter Spiele des Festkalenders. Zahlensymbolik in der Bibel. II. Internationales Symposium Kirchenmusik und Brasilianische Kultur. Maria Laach

1998. Anthropos ludens.Internationales Kolloquium. Akademie für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft/ISMPS. São Paulo

1995. Tagung und Generalversammlung der CIMS. Abtei Montecassino

1992. II. Brasilianischer Kongress für Musikwissenschaft. Grundlagen der Musikkultur Brasiliens. Rio de Janeiro

1992. III.Internationales Symposium Kirchenmusik und Brasilianische Kultur. Sitzung in der Abtei São Bento. Rio de Janeiro

1991. Akademische Sitzung in der Universität Urbaniana, Rom

1989. Internationales Symposium zu Christliche Traditionen und Synkretismus. Musikethnologische Sektion des Instituts für hymnologische und musikethnologische Studien. Maria Laach, Bonn

1989. Tagung Musik und Religion der Konrad-Adenauer Stiftung. Schwäbisch-Gmünd

1989. Vorstellung der Publikation „Grundlagen christlicher Musikkultur in der außereuropäischen Welt der Neuzeit“. Maria Laach

1985. VIII. Internationaler Kongress für Kirchenmusik. Christus in Ecclesia Cantat. Rom 1985

1985. Intrinsische christliche Anthropologie in Volkstraditionen Lateinamerikas. Symposium der Europäischen Gemeinschaften, Brüssel

1984. Musikethnologisches Symposium. Pontificio Istituto di Musica Sacra. Rom

1981. I. Internationales Symposium Kirchenmusik und Brasilianische Kultur. São Paulo

1981. Treffen an der Katholischen Universität Petrópolis. Petrópolis

1977. Gründung der musikethnologischen Sektion des Instituts für hymnologische und musikethnologische Studien. Köln/Maria Laach

1975. Ikonographische Themen in der Malerei. Kunsthistorisches Institut der Universität Köln. Diözesan Museum Köln


Mosteiro Batalha. Seminário Theorie der Musik im Mittelalter von A.A.Bispo

Zum Proseminar in Köln 2005

Im Sommersemester 2005 wurde ein Proseminar zum Thema Theorie der Musik im Mittelalter an der Universität Köln angeboten, das die Möglichkeiten von Ansätzen aus den Debatten zu interkulturellen Prozessen bei deren Betrachtung erproben sollte. Die Veranstaltung schloss sich an das Internationale Kolloquium Interkulturellen Studien an, das von der Akademie für Kultur- und Wissenschafrtswissenschaft/ISMPS veranstaltet wurde und an dem Studierende der Universitäten Bonn und Köln teilnahmen. Entsprechend der Orientierung der Akademie wurde die Aufmerksamkeit auf Prozesse im Mittelalter ausgerichtet, in die sich die Theoretiker und ihre Schriften einfügten. Eine besondere Berücksichtigung wurde Hrabanus Maurus ausgehend von der in Köln vorgelegten Dissertation über ihn von Albert Richenhagen gewidmet.

Die Gegenwart, die geprägt ist von Migrationen und Globalisierung, verlangt unter verschiedenen Aspekten neue Ansätze bei der Betrachtung der Theorie der Musik im Mittelalter. Die Debatten hinsichtlich einer interkulturellen Philosophie des Dialoges sowie theoretischen Ansätzen der Kulturwissenschaft können neue Perspektiven eröffnen. Es geht nicht primär darum, Dialoge bei den mittelalterlichen Autoren und in Traktaten zu untersuchen, zumal die Disputationen von Gelehrten verschiedener Glaubensrichtungen auf die Affirmation eigener Überzeugungen und Standpunkten basierte. Eine Haltung des Dialoges, die auf Verständigung zielt, setzt das Studium und die Offenheit gegenüber anderen philosophischen Systemen und die Bereitschaft voraus, mit ihnen in Austausch zu treten. Die aktuelle Situation weltweiter Verflechtung und Kommunikation, die alle Bereiche des Lebens und des Wissens betrifft, verlangt bei der Betrachtung der Geschichte eine andere Positionierung, Geisteshaltung und andere Perspektiven bei der Analyse mittelalterlichen Schrifttums auch unter dem Aspekt der Musik.

Mosteiro da Batlha. Seminário Theorie der Musik im Mittelalter von A.A.Bispo

Besprochene Autoren und Schriften

Sitzungen
Mai, 2. Augustinus, Ambrosius von Mailand, Isidor von Sevilla
Mai, 9. Benedikt von Nursia, Gregor I, Alcuinus
Mai, 23. Johannes Scotus Ereugena. Aurelianus Reomensis. Notker Balbulus
Mai, 30. Regino von Prüm. Hucbald von St. Amand. Amalarius von Metz
Juni, 6. Walafrid Strabo. Hubertus von Deutz. Wilhelm von Colches
Juni, 13. Hugo von St. Victor. Johannes von Salisbury. Dominicus Gundisalinus
Juni, 20. Anonymus. Remigius de Auxerre. Alfarrabius
Juni, 27. Notker Labeo. Berno von Reichenau. Guido von Arezzo
Juli, 4. Aribo Scholasticus. Wilhelm von Hirsau. Johannes von Affligen
Juli, 11: Bernhard von Clervaux. Hermann von Reichneau. Hermannus Contractus
Juli, 18. Jacobus Leodiensis. Philippe de Vitry. Joahhes XXII
Juli. 23. Kolloquium in der Akademie für Kultur-und Wissenschaftswissenschaft

Besprochene Theme ausgehend von Hrabanus Maurus

Mai, 2. Definition der Musik. Klassifikation der Musik
Mai, 9. URsprung der Musik. Wirkung der Musik
Mai, 23. Musik im Kreise der Artes liberales
Mai, 30 Die exegetische Methode. Die Musik im Alten Testamente
Juni, 6. Musikinstrumente: organum bis sambuca
Juni, 13. Musikinstrumente: cymbala bis calamus
Juni, 20. Musik im Neuen Testament


Herausragende Seminararbeiten


Ingrid Adams. Zum geistigen Sinn der Musik im Alten Testament in der Darstellungsweise des Hrabanus Maurus


Wiebke Schumann. Die Musikwissenschaft bei Al-Farabi und wie das griechische Gedankengut ins Abendland gelangte. Ein Dialog der Kulturen