AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

FRÉDÉRIC CHOPIN (1810-1849)


Prof. Dr. Antonio Alexandre Bispo


Universität Bonn
Hauptseminar – SS 2004



im memoriam Guiomar Novaes (1894-1979) - nach 25 Jahren ihres Todes

20 Jahre der Besichtigung und Studien an der Kartäuser von Valdermossa, Mallorca, 1984

Im Anschluss
an Akt am Denkmal Chopin’s am Praia Vermelha, Rio de Janeiro zum Abschluß des
Kongresses Euro-Brasilianischer Studien 2002
im Andenken an  Tytus Woyciechowski (1808-1879), Julian Fontana (1810-1860) und Anton Wodzinski (1848-1928)





Die Musik Chopins gehört weltweit zu den verbreitetsten, in unterschiedlichsten Ländern, Kontexten und sozialen Kreisen am meisten geschätzten, studierten und gespielten Werken des europäischen Repertoires.

Ihre herausragende Stellung in der Klavierliteratur und in der Ausbildung von Pianisten ist unstrittig. Mehrere Komponisten haben aus ihr Anregungen für die eigenen Werke gewonnen und vielerorts bestimmte die Musik Chopins langfristig stilistische Entwicklungen. Chopin erlebte nicht nur wie kaum ein anderer eine weltweite Verbreitung, sondern gab Impulse für das Musikschaffen zahlreicher Komponisten auch in außereuropäischen Ländern. Er ist präsent in Konzertprogrammen und zahlreichen Tonaufnahmen und wird bei Chopin-Festivals und Musikwettbewerben gefeiert. Leben und Werk Chopins werden in vielen Studien behandelt. ihm ist aber auch eine umfangreiche, romanhafte Literatur gewidmet, welche die Imagination und Phantasie zahlreicher Menschen in der ganzen Welt beflügelt.

Allein diese unvergleichliche Verbreitung und Beliebtheit der Musik Chopins in der ganzen Welt stellt ein bemerkenswertes Kulturphänomen dar, dessen Gründe, Begleitumstände und Folgen erforscht zu werden verdienen.

Chopin-Denkmal in Manchester GB. Foto A.A:Bispo

Trotz einer umfangreichen Literatur und der fortgesetzten Chopin-Forschung – vor allem in Polen – scheint Chopin vielleicht gerade durch seine Popularität oft in der Hintergrund des musikhistorischen Forschungsinteresses getreten zu sein, vor allem auch über viele Jahren in Deutschland. Es wurde in bestimmten Kreisen als fast peinlich erachtet, sich mit Chopin zu befassen. Die Bestrebungen zur Erneuerung des Konzertrepertoires und des Klavierunterrichts mögen dazu beigetragen haben. In mehreren Ländern wurden seine Gestalt und sein Werk Inbegriff einer konservativen Musikausbildung und eines Repertoires, das es seit Jahrzehnten zu erneuern gilt.  

Chopin und sein Werk sollten allerdings keinesfalls entwertet werden. Die Musik Chopins darf unter keinen Umständen unter dem Aspekt einer Ästhetik der Trivialität oder der Salonmusik des 19. Jahrhunderts in ihrer Bedeutung gemindert werden. Die verfeinerte Differenziertheit seiner Melodik, Harmonik und Rhythmik ist nicht beliebig, sondern lässt aufmerksame, reflektierte und feinsinnige Auseinandersetzungen mit konstruktiven Problemen erkennen. Die außerordentliche Bedeutung seiner Musik ist jedoch nicht ausreichend aus satztechnischen Analysen oder musikhistorisch in konventionellem Sinn zu erfassen. In ihrer weltweiten Rezeption und Wirkung, in der Faszination, die sie in unterschiedlichen Kontexten seit langem hervorruft, in den Schaffensprozessen, die sie entfachte, verlangt sie nach einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Musikforschung, deren Blick auf Prozesse in weltweiten Zusammenhängen ausgerichtet ist. Aus dieser Perspektive es lohnt sich, an die politischen Konnotationen seines Schaffens zu erinnern, die nicht nur hinsichtlich von Ereignissen und Entwicklungen seiner Zeit zu betrachten sind, sondern in ihren transepochalen und übernationalen Dimensionen. Chopin wurde als Beispiel für eine Haltung angesehen, die Patriotismus jenseits völkischer Nationaleingrenzungen mit politischen und menschlichen Werten von Freiheit und Rechten verbindet.

Allerdings wurde seine Musik auch für Propagandazwecke in der nationalsozialistischen Zeit instrumentalisiert. Diese Paradoxien in der Deutung und den Zuschreibungen müssen aufgespürt und analysiert werden. Eine Auseinandersetzung mit dem Bedeutungskomplex von Chopin, in dem ihm zum einen geradezu eine freiheitliche, progressive Rolle zugewiesen wird, der aber zum anderen auch ermöglicht, dass der Komponist und seine Werke für nationalistische Zwecke instrumentalisiert werden, betrifft selbstverständlich primär Polen, ist aber auch für die Kulturanalyse anderer Kontexte relevant. Die Beachtung dieser unterschiedlichen Lektüren und Interpretation seiner Gestalt und seines Werkes mögen Brücke schlagen zwischen der Chopin-Forschung und einer Musikforschung, die sich entsprechend dem interpretiven turn der theoretischen Debatten neu zu orientieren sucht.

Chopin-Denkmal in Manchester GB. Foto A.A.Bispo

Zu den Voraussetzungen der Studien

Bei der Auseinandersetzung mit interdisziplinären Ansätzen, die die Chopin-Forschung betreffen, ist auf eine Strömung der Studien und Initiativen besonders zu achten, die auf São Paulo der 1960er Jahren zurückführt. Sie hängt unter vielen Aspekten mit Polen, mit der polnischer Migration nach Brasilien, mit polnischen Musikern, mit der Verfolgung von Ereignissen und Entwicklungen in Polen, mit der Kulturarbeit polnischer Auslandsvertretungen und mit dem Interessen für Polen in der Neuen Musik, angeregt durch Impulse aus dem Warschauer Herbst, zusammen. Am 30. September 1969 fand im Museum Zeitgenössischer Kunst der Universität São Paulo ein Konzert neuer Musik Polens anlässlich einer Austellung polnischer Gravuren von Tadeusz Lapinski (1928-2016) statt, in dem in einem Vortrag von P. A. de Moura Ferreira hervorgehoben wird, dass die Routine des Konzertlebens und des Klavierunterrichts den Eindruck erweckte, dass die Musik Polens mit Chopin beginnt und endet. Polen war jedoch führend in der Musik der Gegenwart, wie die Werke von Komponisten wie W. Lutoslawski, K. Penderecki, Henrik Gorecki, W. Kolonski, A. Dobrowolski und J. Lucluk bezeugen. Dieses Plädoyer für eine Erweiterung des Horizonts führte zu einem Debatte über Rolle und Bedeutung von Chopin und dessen Werke für Brasilien. Zu dieser Bedeutung trugen mehrere Persönlichkeiten des Musiklebens bei, allen voran die international renommierte Pianistin Guiomar Novaes, der das Werk Chopins über Jahrzehnte vor allem auch in den Vereinigten Staaten pflegte und verbreitete. Sie wurde in Pianisten-Zirkeln wie dem des Saales Luigi Chiaffarelli in São Paulo als Persönlichkeit und Interpretin hoch verehrt. Im Zeichen der Gestalt und Interpretationskunst von Guiomar Novaes entwickelten sich Studien zur Klaviermusik Brasiliens im Rahmen der 1968 gegründeten Gesellschaft Nova Difusão, die für eine grenzüberschreitende und prozessorientierte Vorgehensweise in Kultur- und Musikstudien eintrat. In ihrem Zentrum für Musikforschung wurde daran erinnert, daß die transepochale, kulturpolitische Bedeutung Chopins von einem fortschrittlichen Denker wie Mário de Andrade (1893-1945) erkannt wurde. Chopin wurde emblematisch für einen Geist der Freiheit und einem Streben nach Befreiung angesichts der nationalsozialistischen Besetzung Polens.

Die Beschäftigung mit Chopin unter der Perspektive einer kulturwissenschaftlich orientierten Musikforschung in globalen Zusammenhängen wurde ab 1975 in Deutschland weitergeführt. Dazu trug die Mitwirkung von polnischen Musikern beim Leichlinger Musikforum ab 1981 sowie beim Institut für Studien der Musikkultur des portugiesischen Sprachraumes ab 1985 bei. Mehrere Städte und Institutionen Polens sowie historische Stätten des Lebens Chopins in Paris und Mallorca wurden besucht.

Zum Abschluss des Kongresses eurobrasilianischer Studien „Musik, Projekt und Perspektiven“ wurde das Chopin-Denkmal an der Praia Vermelha in Rio de Janeiro unter Teilnahme von Dozenten und Studenten brasilianischer und deutscher Universitäten besucht. Bei diesem symbolträchtigen Akt sollte an Aspekte des Lebens und Schaffens von Chopin aus der Perspektiven der Gender- und Queer-Studies gedacht werden. Erinnert wurden an Persönlichkeiten, die in seinem Leben eine besondere Rolle spielten. Dabei wurde vor allem Julian Fontana (1810-1869) hervorgehoben, der maßgeblich zur Verbreitung seiner Kompositionen auf dem amerikanischem Kontinent beitrug.

Auch unter diesem Aspekt wurden vorbereitend auf das Seminar die aktuelle Lage der Chopin-Forschung und der Chopin gewidmeten Aktivitäten in Polen betrachtet und dort u.a. Musikinstitutionen in Polen 2003 besucht.

Chopin-Denkmal in Rio de Janeiro. Foto A.A.Bispo

Vorangegangenes

2002. Visite des Chopin-Denkmals in Rio de Janeiro beim Abschluss des Internationalen  Kongress euro-brasilianischer Studien zum Thema Musik, Projekte und Perspektiven, unter Teilnahme von Dozenten und Studenten deutscher Universitäten

2000. Studienprogramm Guiomar Novaes. Studien in den USA. ISMPS

1996. Besprechungen über die Chopin-Pflege in Macau und Hongkong durch die Gesellschaft für Musikfreunde Macaus. Kolloquien zum Anlass der Übergabe von Hongkong und Macau an China, ISMPS, Inter-universitäre Institute, u.a.

1992. F. Chopin in den Programmen des Mozarteums unter B. Paumgartner: Herta Karetta am 26. Februar 1919. Gespräche nach Vortrag am Mozarteum Salzburgs

1984. Visite der Gedenkstätte von Chopin und George Sand auf Mallorca. La Cartuja. Valdemossa

1983. Lehrveranstaltungen bei Deutsch-Französischem Musikforum und Musikschulwoche. Leichlingen- Marly-le-Roy

1982-1985. Gemeinsame Initiativen mit Marek Bartkwieckz, Leichlinger Musikforum und ISMPS

1975. Besprechungen in Paris im Rahmen des Programms kulturwissenschaftlich orientierter Musikforschungen. Musikkonservatorium von Paris. Visite des Grabes von Chopin im Friedhof Père-Lachaise

1973. Konzerte und Debatte zu Werken Chopins mit Nympha Glasser. Fakultät für Musik und Kunsterziehung des Musikinstituts São Paulo

1968. Studienprogramm Guiomar Novaes. Zentrum für musikwissenschaftliche Studien der Gesellschaft Nova Difusão. Sala Luigi Chiaffarelli, São Paulo

1967 Zeitgenössische Musik aus Polen. Ausstellung von Lapinski. Chopin und die Erneuerung des Klavierrepertoires mit P.A. de Moura Ferreira. Museum Zeitgenössischer Kunst. Universität São Paulo.

Boston Herald zu Guiomar Novaes. Archiv ISMPS

Das Chopin-Seminar in Bonn

In diesem Seminar wurden einführend Entwicklung und Stand der Chopin-Forschung, die Geschichte und Gegenwart der Ausgaben seiner Werke und die dem Komponisten gewidmeten Festivals, Wettbewerbe und Projekte besprochen. Den Teilnehmern sollte ein Überblick sowohl über eine Chopinophanie, eine Chopinistik als auch über eine Chopinologie – wie polnische Autoren es bezeichnen – vermittelt und damit ein Anschluss deutscher Studenten an die internationale, vor allem auch polnische Chopinforschung ermöglicht werden.

Chopin sollte in diesem Seminar entsprechend der auf São Paulo der 1960er Jahren zurückgehenden Entwicklung neuer Ansätze einer Musikwissenschaft betrachtet werden, die besonders Kulturprozesse in globalen Zusammenhängen berücksichtigt. Dementsprechend wurde die Rezeption und die Wirkungsgeschichte der Werke Chopins nicht nur in europäischen Musikzentren im Rahmen gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen und damit verbundener Strömungen des Geistes und des Kulturlebens des 19. Jahrhunderts betrachtet, sondern auch in außereuropäischen Ländern, in denen die Musik Chopins außerordentliche Verbreitung im Konzertleben und in der Ausbildung von Pianisten erfuhr und das Schaffen zahlreicher Komponisten beeinflusste.

Dieser Einfluss, der nicht nur in Werken für Klavier herausragender Komponisten mehrerer Länder – vor allem Lateinamerikas –, sondern auch in der Salon- und selbst der Popularmusik zu erkennen ist, wurde von den Teilnehmern bei Werkanalysen herausgearbeitet.

Das Seminar konnte auf die Kooperation der Kunst- und Musikschule der Stadt Remscheid zählen. Mehrere Schüler studierten Werken von Chopin ein, die im Rahmen eines seminarinternen Kolloquiums aufgeführt und von Referaten der Seminarteilnehmer begleitet und besprochen wurden.







Kolloquium Chopin in Bonn

Basistexte zur Einführung und Erarbeitung von Referaten

Tomaszewski, M.. Frédéric Chopin uns seine Zeit. Laaber Verlag 1999

Zielinski, T.. Chopin: Sein Leben, sein Werke, seine Zeit. Übers. Aus dem Polnischen v. M. Homma u. M. Brockmann. Bergisch Gladbach 1999 (1993)


Referate zum Stand der Forschung

Werkverzeichnisse und Kataloge

Bibliographien, Diskographien

Briefe und Tagebücher

Dokumente, Bildmonographien

Biographien und Monographien

Essays

Untersuchungen zur Chopins Leben

Untersuchungen zu Chopins Werk

Chopin-Rezeption

Pianistische Aspekte

Sammelbände, Symposien- und Kongressberichte

Jahrbücher, Reihen, Periodica


Besprochene Literatur

Einführungstexte zur theoretischen Diskussion

Geertz, C.. Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M. 1983

--------------. Local Knowledge. Further Essays in Interpretive Anthropology. New York 1983

Hiley, D. R.,  Bohman, J. E., Shusterman, R. (Hg.). The Interpretive Turn. Philosophy, Science, Culture. London: Ithaca 1991

Musner, L. Kultur als Textur des Sozialen. Essays zum Stand der Kulturwissenschaften. Wien 2004

Steger, F. (Hg.). Kultur – ein Netz von Bedeutungen. Analysen zur symbolischen Kulturanthropologie. Würzburg 2002


Besprochene Publikationen (Auswahl)

Andrade, M..”Chopin”. 378-381. (São Paulo: L.G. Miranda 1933). Música, Doce Música. São Paulo: Martins 1963. (Obras completas de Mário de Andrade VII)

Bourniquel, C..Frédéric Chopin. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten.Reinbek bi Hamburg: Rowohlt 1994

Burger, H.. Frédéric Chopin. Eine Lebenschronik in Bildern und Dokumenten. München 1990

Dahlhaus, C..Die Musik des 19. Jahrhunderts. Wiesbaden: Athenaion 1980. (Neues Handbuch der Musikwissenschaft 6)

--------------. “Zur Problematik der musikalischen Gattungen im 19. Jahrhundert.”. Arlt, W. u.a.  (Hrsg.), Gattungen der Musik in Einzeldarstellungen. Gedenkschrift Leo Schrade. Folge 1. Bern: Francke 1973

--------------. “Klassizität, Romantik, Modernität. Zur Philosophie der Musikgeschichte des 19. Jahrhunders”. W. Wiora (Hg.). Die Ausbreitung des Historismus über die Musik. Regensburg:Bosse 1969, 261-276. (Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 14)

--------------. (Hg.) Studien zur Trivialmusik des 19. Jahrhunderts.  Bosse: Regensburg 1967.  Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 8)  

Eigeldinger, J.-J.. Chopin – pianist and teacher- as seen by his pupils. Cambridge: Cambridge University Püress 1986 (Chopin vu par ses élèves. Neuchâtel: La Conniére 1970)

--------------. “L'univers musical de Chopin”. Paris: Fayard 2000

Golab, M.. Chopins Harmonik – Chromatik in ihrer Beziehung zur Tonalität. Köln: Bela Verlag 1995

Lissa, Z., “Zur Genesis des 'Prometheus-Akkords' bei A.N. Skriabin, in: Musik des Ostens 2, Kassel 1963, 170-183

Lotz, J.. Frédéric Chopin. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 1995

Pistone, D. (Hrsg.). Sur les traces de Frédéric Chopin. Paris 1984

Rummenhöller Peter, Romantik in der Musik : Analysen Portraits Reflexionen. Kassel u.a.: Bärenreiter 1989

Samson, J. . Frédéric Chopin. Stuttgart: Reclam 1991

--------------. (Hg.). The Cambridge Companion to Chopin. Cambridge: Cambridge University Press 1992

Schlientz, Gisela. George Sand. Leben und Werk in Texten und Bildern. Frankfurt a.M. 1987 (insel taschenbuch 565)


Herausragende Seminararbeit


Stephan Schmitz. Chopin-Rezeption in Brasilien. Der Einfluß des Werkes Frédéric Chopins im Kontext von brasilianischer Komposition und Musikkultur



Chopin von Paes da Cunha 1947. Archiv ISMPS